Eine Chronologie der Russischen Revolution 1917

Im Februar 1917, mitten im blutigen Ersten Weltkrieg, war Russland immer noch eine absolutistische Monarchie. Neun Monate später wurde es der erste sozialistische Staat der Welt. Wie innerhalb von neun Monaten diese unvorstellbare Transformation gelingen konnte, wird 100 Jahre später immer noch sehr kontrovers diskutiert. Wir stellen hier die Chronologie der Ereignisse vor, die zur Oktoberrevolution führten.
12. Oktober 2017 |

Russland wurde in den Monaten Februar und Oktober 1917 von zwei großen Aufständen erschüttert. Im ersten entledigten sich die Massen in atemberaubender Geschwindigkeit der Zarendynastie der Romanows, die seit 1613 ununterbrochen über das Riesenreich herrschte. Im zweiten stürzten sie eine kleine Clique von elitären Politikern, die sich an die Spitze der revolutionären Regierung gestellt hatten, um ein Fortschreiten der Revolution zu verhindern.

Februarrevolution

Der 23. Februar war Weltfrauentag in Russland. Textilarbeiterinnen verließen an diesem Tag die Fabriken und holten die Männer von ihren Arbeitsplätzen. Aktivistinnen der Textilfabrik Newka riefen: „Auf die Straßen! Stopp! Wir haben genug!“ Sie führten die Frauen zu den nahe gelegenen Metall- und Maschinenfabriken. Sie warfen Schneebälle an die Fenster der Nobel-Werke und überzeugten die Belegschaft der Erikson-Werke ebenfalls in den Streik zu treten.

Hinweis zum alten und neuen Kalender: Bis 1918 verwendete Russland den Julianischen Kalender, der dem modernen Gregorianischen Kalender um 13 Tagen vorauslief. In Russland brach die Februarrevolution am 23. Februar aus, nach westlicher Zeitrechnung am 8. März (daher manchmal als „Märzrevolution“ zu lesen). Die Oktoberrevolution begann aus Sicht der russischen Akteure am 25. Oktober, aus westlicher am 7. November (daher gelegentlich als „Novemberrevolution“ bezeichnet). In diesem Artikel wird der alte Kalender verwendet.

Die Frauen hatten genug. Sie hatten lange Arbeitstage von zwölf bis dreizehn Stunden. „Den letzten Anstoß gaben die immer länger werdenden Brotschlangen … Ungefähr 90.000 Arbeiterinnen und Arbeiter streikten an diesem Tage. Die Kampfstimmung entlud sich in Demonstrationen, Versammlungen und Zusammenstößen mit der Polizei“, schrieb Leo Trotzki in seinem Monumentalwerk Die Geschichte der Russischen Revolution.

Diese Proteste hätten in einem Blutbad enden können. Aber die Soldaten unterstützten im Laufe der nächsten fünf Tage immer offener die demonstrierenden Arbeiter_innen, bis sie schließlich mehrheitlich meuterten und überliefen. Der Zar trat zurück, Arbeiter_innen und Soldaten gründeten „Sowjets“ – Versammlungen von Arbeiter-, Bauern- und Soldatendelegierten, die demokratischsten Organe, die die Geschichte bis dahin kannte. Die Sowjets übernahmen über Nacht die Kontrolle über das Land.

Ein paradoxes Regime

In derselben Nacht Ende Februar 1917 formte ein pragmatischerer Typ Politiker – liberale, konservative, und moderat-sozialistische – die „Provisorische Regierung“. Sie lobpreisten den Sowjet und sparten nicht mit demokratischer und revolutionärer Rhetorik; sie versprachen Frieden, Brot und Land. Nur durfte Frieden nicht die nationale Ehre beschädigen, Brot sollte warten bis die Krise zu Ende war, und bei der Verteilung des Landes sollten die Rechte der Großgrundbesitzer respektiert werden. In den ersten Tagen setzte die Provisorische Regierung ihre Hoffnungen in eine Rückkehr der Monarchie. Aber die Empörung der Arbeiter_innen machte klar, dass der Weg zurück zur Monarchie versperrt war.

Bis Juni wurde die Provisorische Regierung von den „Kadetten“, einer liberalen Partei der fortschrittlichen Gutsbesitzer und des Bürgertums, unter Miljukow angeführt. Auch an die Spitze der Sowjets, dem Exekutivkomitee der Sowjets, setzten sich Politiker, die in den fünf Tagen davor wenig Sympathien für die revolutionäre Aktion zeigten. Meistens waren sie bemüht die Revolution einzudämmen. Alexander Kerenski sollte zu ihrem Superstar aufsteigen.

Den Führern der Provisorischen Regierung war klar, dass die Macht de facto bei den Sowjets lag. „Vom Sowjet wurden alle Post- und Telegraphenämter besetzt, das Radio, alle Petrograder Bahnhöfe, alle Druckereien, so dass man ohne seine Erlaubnis weder ein Telegramm abschicken, noch aus Petrograd verreisen, noch einen Aufruf drucken konnte“, schrieb Trotzki. Weder Arbeiter noch Soldaten waren bereit, sich irgendeiner anderen Kraft unterzuordnen außer ihrem Sowjet.

Lenins Rückkehr

Unter der Leitung von Stalin und Lew Kamenjew nahmen die Bolschewiki ab März eine unkritische Haltung gegenüber der Provisorischen Regierung ein. Nach seiner Rückkehr aus dem Schweizer Exil am 3. April erreichte Lenin einen Kurswechsel. In den „Aprilthesen“ argumentierte er, warum die revolutionäre Partei der Bolschewiki sich in Opposition zur Provisorischen Regierung und zur Fortsetzung stellen müsste. Das Motto müsse „Alle Macht den Sowjets!“ lauten.

Lenin konnte mit Hilfe der deutschen Regierung in einem versiegelten Waggon von der Schweiz nach Russland reisen, weil sich die Deutschen erhofften, dass ein Fortschreiten der Revolution die russische Armee schwächen würde – zu Recht! Obwohl auch zahlreiche exilierte Menschewiki und Sozialrevolutionäre nach Lenin diesen Weg nahmen, wurden die Bolschewiki als deutsche Spione gebrandmarkt.

Die erste große Krise

Pawel Miljukow, der bestimmende Mann und Außenminister der ersten Provisorischen Regierung, machte ab Ende März Stimmung für eine neue russische Offensive an der Front, wo seit der Februarrevolution weitestgehend ein Waffenstillstand herrschte und die von Verbrüderungen zwischen russischen und Soldaten der Mittelmächte geprägt war. Er plante einen Vormarsch an den Dardanellen (Zugang zu Konstantinopel).

Alexander Kerenski, Vorsitzender der Sowjets und später der Provisorischen Regierung, war vergeblich bemüht das Volk wieder zu entmachten.

 

Eigentlicher Zweck war die Auslösung einer patriotischen Welle, die den Kriegsgeist wieder aufleben lassen sollte. Die Revolution sollte müde gemacht, der Krieg ganz nach den alten Plänen fortgesetzt und das Volk wieder entmachtet werden. Nur scheiterte die Offensive an der Weigerung der Soldaten. In Petrograd kam es zu zornigen bewaffneten Protesten. „Alle Macht den Sowjets“, die wichtigste Parole der Bolschewiki, fand in diesen „Apriltagen“ Zustimmung und Verständnis bei den Massen.

Junidemonstration

Die Bolschewiki hatten für den 10. Juni eine Demonstration angekündigt, die ihnen vom Sowjet untersagt wurde. Treibende Kraft der Demonstration waren die Petrograder Soldaten, die erfahren hatten, dass die im Februar erkämpften Rechte der Soldaten – Soldatenkontrolle über die Waffen, Vertretung im Sowjet, alle Bürgerechte außerhalb des Dienstes – zurückgenommen werden sollten. Außerdem war die geplante Offensive der Armee noch nicht vom Tisch, die Provisorische Regierung noch immer nicht entmachtet. Die Bolschewiki fügten sich der Untersagung, aber sie bekamen eine Woche später am 18. Juni eine zweite Gelegenheit. Die Menschewiki riefen zu einer Demonstration auf, um „den Feinden die Einheit und Macht der Demokratie zu zeigen“.

Die 400.000 Demonstrant_innen griffen allerdings die Slogans der Bolschewiki auf: „Nieder mit den zehn Minister-Kapitalisten“, „Nieder mit der Offensive“, „Alle Macht den Sowjets“. Die Gegner der Bolschewiki waren schockiert. Die Zeitung des prominenten Schriftstellers Gorki musste zugeben, dass „die Sonntagsdemonstration den völligen Triumph des Bolschewismus beim Petrograder Proletariat“ bewies. Von nun an standen die Bolschewiki unter Dauerbeschuss ihrer politischen Konkurrenz. Menschewiki, Sozialrevolutionäre, Kadettenpartei und die Offiziere warfen ihnen vor, sie seien deutsche Agenten.

Am selben Tag der Demonstration beging der Führer des Sowjets einen folgenschweren Fehler: Kerenski, inzwischen Sowjetführer und Kriegsminister, startete eine von Miljukow und den Generälen gewünschte militärische Operation, die „Kerenski-Offensive“, deren Scheitern seinen Niedergang beschleunigen sollte. Die Offensive endete in einer Gegenoffensive der deutschen und der K.u.k-Armeen und kostete zigtausenden Soldaten das Leben.

Julitage

Aus Empörung über die Kerenski-Offensive und weil die Soldaten und Matrosen es nicht mehr erwarten konnten, dass der Sowjet endlich die Provisorische Regierung entmachten würde, riefen die Petrograder Regimenter Anfang Juli zu bewaffneten Demonstrationen auf. Die Bolschewiki warnten, dass man keine frühzeitigen Versuche machen dürfte die Macht zu ergreifen, denn auch wenn die Massen in Petrograd dazu bereit wären, im restlichen Russland war die Stimmung nicht so weit, und für die Gegner wäre es ein Leichtes gewesen, Petrograd zu isolieren und eine Konterrevolution durchzuführen.

Die Regimenter waren aber nicht aufzuhalten, und die Bolschewiki schlossen sich der Demonstration an, um zu verhindern, dass Regierungsgebäude mit Gewalt eingenommen werden. Offiziere und Kosaken beschossen die Demonstration, es gab 29 Tote und 114 Verwundete. Der Startschuss zu einer erfolglosen Konterrevolution war gegeben. In den Wochen nach der Demonstration wurden bekannte Linke verhaftet, manchmal auf der Stelle erschossen, die Bolschewiki wurden gejagt, ihre Druckerpressen zerschlagen, ihre Parteigebäude besetzt. Lenin rechnete damit, dass er ermordet werden würde und ging in den Untergrund, Trotzki rief die Regierung auf ihn auch zu verhaften, was prompt geschah.

Kornilows doppelter Putsch

Kerenski hat sich nach der Niederschlagung der Julidemonstrationen zum Regierungschef aufgeschwungen. Mit General Kornilow, der als stramm konterrevolutionär bekannt war und mitverantwortlich für die gescheiterte Offensive im Juni, plante er die militärische Niederschlagung des revolutionären Petrograd, dem Zentrum der Revolution und der Basis der revolutionären Regimenter. Als sich Kornilows Truppen Petrograd näherten, kam Kerenski ein Bericht zu, dass Kornilow nicht bei der Auslöschung der Revolutionäre halt machen würde, sondern dass er das ganze Februarregime beseitigen würde, und eine Militärdiktatur zu errichten plante.

Kerenski einigte sich mit allen Sowjetparteien, inklusive der Bolschewiki, den Putsch abzuwenden. Die Bolschewiki organisierten mit dem linken Flügel der Sozialrevolutionäre den Abwehrkampf. Der bestand vor allem in Überzeugungsarbeit. Man schickte erfahrene Soldaten aus, die sich unter Kornilows Truppen mischten und diese aufklärten, dass sie missbraucht werden, um den Krieg zu verlängern und die Errungenschaften des Februars zu zerstören. Und man desorganisierte Kornilows Truppenbewegungen. Waffenlieferungen kamen niemals an, Züge blieben stehen oder wurden im Kreis geschickt. Der Putsch fiel in sich zusammen. Nach diesem Wendepunkt schwenkten viele der linken Menschewiki und der linken Sozialrevolutionäre um, wandten sich von Kerenski ab und den Bolschewiki zu.

Offene Aufstandsdebatte

Ab September wurde in aller Öffentlichkeit diskutiert, wie man die Provisorische Regierung beseitigen könnte. Freiwillig würden der Regierungschef Kerenski, die Minister und ihre Beamten niemals abtreten, egal wie unbeliebt sie bei den Massen waren. Der ehemalige Regierungschef Miljukow schrieb treffend: „Die bürgerliche Republik, verteidigt allein nur von Sozialisten der gemäßigten Strömungen, die im Volke keine Stütze fanden …, konnte sich nicht halten. Ihr ganzer Kern war verwittert, es blieb nur die äußere Schale.“ Die Doppelherrschaft von Sowjet und Provisorischer Regierung musste in einem Sieg einer Seite enden. Lenin drängte sobald als möglich mit den Kräften der Bolschewiki loszuschlagen. Trotzki hielt dagegen, dass man eine stabile Mehrheit des Sowjets hinter sich haben und andere Kräfte einbeziehen müsse.

Eine Kraft, die laut Trotzki über die Dauerhaftigkeit des Siegs entschied, war die Bauernschaft. Sie wartete seit Februar, dass die Versprechen von Land und Freiheit wahr gemacht werden würden und wurde immer ungeduldiger. Es kam im ganzen Land zu gewaltsamen Aneignungen des Großgrundbesitzes. Die Regierung war wegen des Ausmaßes der Aktionen nicht imstande die Großgrundbesitzer zu beschützen. Den Bauern waren die politischen Auseinandersetzungen und die Rolle der Bolschewiki kaum bekannt, aber sie bereiteten einen Bauernkongress für den Oktober vor, der zeitgleich mit dem Sowjetkongress stattfinden sollte. Dieser wurde bis dahin seit Februar immer wieder verschoben. Für diese Tage wurde der Aufstand gegen die Regierung vorbereitet.

Das Militärische Revolutionskomitee wurde vom Sowjet ins Leben gerufen, um Gerüchte über eine Konterrevolution zu untersuchen, und genau dieses Komitee hatte die Vorbereitung des Aufstands über. Währenddessen bereiteten sich die Fabriken ebenfalls auf den Aufstand vor und gründeten ihre eigenen militärischen Revolutionskomitees. Regierungsgebäude, Waffendepots, Telefonzentralen und Bahnhöfe mussten eingenommen werden, Straßen gesperrt und Offiziere und konterrevolutionäre Truppen daran gehindert werden, der Provisorischen Regierung zu Hilfe zu kommen. Die größte Sorge bereitete das Komitee der Eisenbahner, dessen Führung gegen den Aufstand war, aber die Basis erzwang einen Kongress und Neuwahlen und lokale Komitees unterstützten die Aufstandspläne.

Oktoberrevolution

Bei der Einnahme des Winterpalais, dem zentralen Regierungssitz, ging einiges daneben (Konterrevolutionäre konnten nach Belieben hinaus und hinein), aber ansonsten verlief der Aufstand in der Nacht vom 25. auf den 26. Oktober wie am Schnürchen. Um 3 Uhr morgens wird dem Sowjetkongress übermittelt, dass auch das Winterpalais eingenommen ist, die Mitglieder der Provisorischen Regierung verhaftet. Jubel brach aus und Tränen flossen. Lenin hat ein Dokument vorbereitet: Land soll den Bauern übergeben werden. Allen Nationen innerhalb Russland wird das Recht auf Selbstbestimmung zugesagt.

Das Winterpalais in Petrograd war Sitz der Provisorischen Regierung. Deren Sturz war das Ziel der Oktoberrevolution.

 

Am nächsten Tag sprach Lenin persönlich vor dem Sowjetkongress. Er übernahm zur Gänze die Position der Sozialrevolutionäre in der Bodenfrage. Privateigentum an Boden wurde aufgehoben. Der Sowjetkongress „schlägt allen kriegführenden Völkern und deren Regierungen vor, unverzüglich in Verhandlungen über einen gerechten und demokratischen Frieden einzutreten“.

Wie die Russische Revolution die Gesellschaft radikal veränderte

Wie die Russische Revolution die Gesellschaft radikal veränderte

Quer über das Riesenreich – ein Fünftel der Landmasse des Globus – dauerte die Konsolidierung der Revolution verschieden lange. In Moskau zogen sich die Kämpfe über Wochen hin und kosteten zahlreiche Menschenleben. Die Alliierten Russlands gingen auf das Friedensangebot nicht ein, weshalb die Sowjetregierung einen Separatfrieden mit Österreich-Ungarn, Deutschland und ihren Bündnispartnern in Brest-Litowsk zu äußerst harten Bedingungen abschließen musste. Wenig später einigten sich die ehemaligen Kriegsgegner und Verbündeten Russlands darauf, die junge Republik zu ersticken und die Konterrevolution in Russland mit Waffen und Truppen zu unterstützen. Russland wurde dabei zugrunde gerichtet, und auf den Ruinen der sozialistischen Republik errichtete Stalin seine Diktatur, die außer dem Namen mit Sozialismus nichts mehr gemein hatte.

Zeitraffer
23. Februar: Ausbruch der Februarrevolution. In fünf Tagen ist der Zar gestürzt
3. April: Lenin trifft in Petrograd ein. Soldaten demonstrieren in den „Apriltagen“ gegen Krieg
18. Juni: Erneut Massenproteste gegen Fortführung des Kriegs. Kerenski startet militärische Offensive
3. Juli: Soldaten und Matrosen in Petrograd verlieren Geduld mit der Regierung, bewaffnete Proteste
26. August: Putschversuch von General Kornilow
25. Oktober: Einnahme der Regierungsgebäude