„Innen Leben“
Die Schrecken, die der Krieg über die Menschen bringt, zeigt der belgische Regisseur Philippe Van Leeuw weder in Form einer Dokumentation noch als klassischen Kriegsfilm mit mächtigen Explosionen und heldenhaften Figuren. Nein, er fängt die Angst in den Gesichtern seiner Darsteller_innen ein. Sein Drama entfaltet sich innerhalb einer Mittelschichtswohnung, die mitten im Kampfgeschehen liegt.
Als Regisseur und Drehbuchautor hat sich Van Leeuw bereits 2009 mit einem Film über den Völkermord in Ruanda („Le jour oú Dieu est parti en voyage“) einen Namen gemacht. Von der Kritik nicht nur freundlich aufgenommen, hat „Innen Leben“ beim „Berlinale“-Festival aber einen Publikumspreis gewonnen. Der Anspruch, die Auswirkungen von Krieg und Belagerung auf das Individuum zu untersuchen, jenseits der medialen Berichte, hatten das Berliner Publikum begeistert. Einen großen Anteil an der beklemmenden Wirkung des Films hat die fließende Kameraarbeit von Virginie Surdej.
Eine Mutter und ihre Familie
Komprimiert auf engem Raum und zeitlich verdichtet auf das Geschehen eines Tages, erzählt „Innen Leben“ wie eine Frau versucht, ihre Familie und Nachbar_innen irgendwie lebend durch den Krieg zu bekommen. Während vor der Haustüre Scharfschützen lauern, Raketeneinschläge die Wohnung erschüttern und Schlägertrupps gegen die Türe hämmern, kämpft Oum Yazan (Hiam Abbass), Mutter von drei Kindern, um einen Hauch von Normalität.
Oum hat in ihrer Wohnung neben den Töchtern Yara (Alissar Kaghadou) und Aliya (Ninar Halabi), ihrem Sohn Yazan (Mohammad Jihad Sleik), auch ihren Schwiegervater Mustafa (Mohsen Abbas) und das Hausmädchen Delhani (Juliette Navis) untergebracht, genauso wie sie den Nachbar_innen Halima (Diamand Abou Abboud), Selim (Moustapha Al Kar) und deren Baby, sowie dem Freund von Yara, Kareem (Elias Khatter), Unterschlupf bietet. Die Nachbarn hatten über ihr gewohnt, bis ihre Wohnung von einer Bombe zerstört wurde.
Sniper und Raketen
Oum Yazan sieht es als ihre Pflicht, bis zur Rückkehr ihres Ehemannes, den sie aber erst am Abend erwartet, für das Überleben dieser kleinen Gemeinschaft zu sorgen.
Doch es fehlt an den grundlegendsten Dingen: Das Wasser wird knapp und frisches zu holen würde bedeuten, die relative Sicherheit der Wohnung zu verlassen. Eine Zeit lang scheint es, als würde der Krieg tatsächlich die engen Grenzen der Wohnung nicht überschreiten. Die Erde bebt zwar von den Einschlägen der Bomben, der Lärm der Explosionen durchdringt alles, doch im ersten Teil des Films bietet das kleine Reich der Oum Yazan seinen Bewohner_innen Sicherheit. Die ist in einer derartigen Kriegssituation aber trügerisch und die unmenschliche Brutalität des Krieges dringt in die vier Wände ein.
Nachbar Selim will mit seiner Frau in den Libanon flüchten. Er verlässt die Wohnung, um sich mit seiner Kontaktperson, einem Reporter, zu treffen. Das Hausmädchen Delhani beobachtet vom Fenster aus, wie er die Straße überquert. Doch er kommt nur einige Meter weit, bis ein Sniper ihn hinterrücks einfach abknallt. Delhani muss mitansehen, wie er fällt. Ob er tot ist, lässt sich nicht feststellen. Zu ihm zu laufen wäre Selbstmord, darauf wartet der Sniper nur, um sich sein nächstes Opfer zu holen. Oum Yazan, überzeugt, dass nur Härte und Disziplin die Verbliebenen retten kann, verbietet Delhani, Selims Frau Halima davon zu erzählen. Sie würde garantiert hinauslaufen, um zumindest den Leichnam ihres Mannes zu bergen.
Flüchtlinge als Schauspieler
Die Rolle des indischen Hausmädchens Delhani wird nicht nur großartig von Juliette Navis gespielt, sie ist auch deshalb interessant, weil die Probleme der „Gastarbeiter_innen“ in Syrien und besonders in der Kriegssituation kaum Beachtung finden. Außerdem ist sie die einzige „proletarische“ Figur im Film, die ansonsten zeigt, dass auch das Kleinbürgertum trotz relativem Reichtums dem Krieg hilflos ausgeliefert ist. Bis auf Abbass, Abboud und Navis wurden alle Rollen mit Laiendarsteller_innen, syrischen Flüchtlingen im Libanon besetzt, wo auch gedreht wurde.
Der Krieg und das Individuum
Das Drama erreicht einen Höhepunkt als Oum Yazan in ein unerträgliches moralisches und emotionales Dilemma gedrängt wird. Zu sehr, zu offensichtlich führt sie das Drehbuch in diese Situation, wurde von Kritiker_innen moniert, dennoch reißt die Szene einen mit: Als zwei Männer trotz verbarrikadierter Türe in die Wohnung eindringen, können sich alle in die Küche retten und sich dort verschanzen, nur Halima ist in einem anderen Raum – mit dem Baby. Durch die dünne Türe müssen alle mitanhören, wie sie geschlagen und vergewaltigt wird. Oum Yazan kann ihr nicht zur Hilfe eilen, ohne alle anderen in Gefahr zu bringen – und so bleibt die Türe verschlossen.
Bei aller Kritik, die man üben kann, „Innen Leben“ bringt uns die bedrückende Realität des Krieges so nahe, wie es ein Medienbericht kaum jemals schaffen kann.