Krone der Schöpfung?
Beinahe jede neue Ausgrabung von menschlichen Fossilien oder von solchen unserer nächsten Verwandten der Gattung Homo, liefert uns neue Erkenntnisse und zwingt uns, bisherige Vorstellungen von der menschlichen Evolution zu überdenken. Dasselbe gilt für die Anwendung neuer Technologien wie der Radiokohlenstoffdatierung und der DNA-Analyse. Die Ergebnisse haben rassistischen Interpretationen den Boden entzogen.
Rassismus wird widerlegt
Wir stammen alle von einer Frau ab, die vor ca. 200.000 gelebt hat, so interpretieren Genetiker_innen DNA-Analysen, die auf der ganzen Welt gesammelt wurden. Nach anderen Studien lebte sie erst vor 135.000 Jahren. Man nennt sie mitochondriale Eva. Nach ihr entwickelte sich unsere Spezies weitere 100.000 Jahre in Afrika weiter. Kleine Populationen verließen Afrika vor 100.000 bis 60.000 Jahren, ein Teil von ihnen sammelte auf dem Weg durch Eurasien ein paar Gene des Neandertalers auf, ein anderer Teil, auf dem Weg nach Melanesien und Australien ein paar Gene des Denisova-Menschen, möglicherweise haben wir auch noch Gene eines dritten Verwandten aufgesammelt. Sicher ist, die größte genetische Vielfalt besitzen die Menschen an dem Ort, von dem wir stammen, in Afrika.
„Die wirklich phantastische und mächtige Erkenntnis die wir daraus ziehen, ist, dass wir eine sehr junge Spezies sind und dass wir alle sehr eng miteinander verwandt sind. Deshalb ist Rassismus solch ein Unsinn.“
Dr. Alice Roberts, eine Anatomin und Anthropologin der Bristol University hat keine Zweifel über die Bedeutung der jüngsten Untersuchungsergebnisse: „Die wirklich phantastische und mächtige Erkenntnis die wir daraus ziehen, ist, dass wir eine sehr junge Spezies sind und dass wir alle sehr eng miteinander verwandt sind. Deshalb ist Rassismus solch ein Unsinn. Die Idee von einer „Rasse“ ergibt in der Biologie keinen Sinn. Das ist ein Konzept, das aus einem Sammelsurium von physischen Charakteristika, Kultur und Religion, mit Bindung an einen Herkunftsort, zusammengestückelt wurde.“
Sonderfall Mensch
Der Mensch ist ganz offensichtlich ein Sonderfall im Tierreich – unser Verhalten ist viel stärker kulturell geprägt als es bei anderen Tierarten der Fall ist. Die Entwicklung einer menschlichen Genlinie hat bei der Herausbildung der Spezies Homo sapiens natürlich eine wichtige Rolle gespielt. Aber Kultur, die Entwicklung und Weitergabe von Wissen über die Gestaltung unserer Umwelt, scheint eine einzigartige Bedeutung gehabt zu haben. Wir durchlebten eine Art Befreiung vom engen Korsett der Vererbung, als wir begannen Werkzeuge zu entwickeln und damit die Umwelt zu gestalten, anstatt nur den kleinen Spielraum innerhalb der vorgegebenen Umweltbedingungen nutzen zu können.
Nicht erst Homo sapiens, sondern schon ältere Verwandte von uns, wie der Neandertaler haben sich in allen Klimaregionen zurechtgefunden, während unsere heutigen nächsten Verwandten – Schimpanse, Gorilla, oder Orang-Utan – nur auf ganz spezielle Lebensräume beschränkt sind. Werkzeuggebrauch, Sprache und Kooperation sind die herausragenden Eigenschaften der Gattung Homo, die uns das ermöglicht haben.
Intelligenz der Neandertaler
Der Neandertaler hat sich nach heutigem Wissensstand in Eurasien aus afrikanischen Vorfahren entwickelt. Er war eine Art Cousin des Homo sapiens und besaß schon erstaunliche kulturelle und geistige Fähigkeiten. Bis vor etwa 100.000 Jahren verfügten beide Arten über ein ziemlich gleichartiges Arsenal an Werkzeugen, hauptsächlich Faustkeilen, Steinklingen, Speeren und einer Vielzahl an hölzernen und knöchernen Werkzeugen, das sie von noch älteren Spezies der Gattung Homo übernommen haben dürften. Faustkeile des Neandertalers wurden in der so genannten Levalloistechnik hergestellt und zwar um die 200.000 Jahre lang. Ein Hinweis darauf, wie weit Tradition, bzw. der kulturelle Austausch komplizierter Technologien innerhalb der weit verstreuten Populationen gediehen sein musste.
Sie beherrschten auch das Herstellen von Birkenpech als Klebstoff, wofür über mehrere Stunden unter Luftabschluss 350 Grad Celsius beherrscht werden mussten. Neandertaler sollen auch als erste Bekleidung hergestellt haben. Sie kannten Arbeitsteilung und waren gut organisiert. Sie fertigten Schmuck an und es gibt Funde von Begräbnisstätten – alles Hinweise auf soziale Organisation, die Fähigkeit zu abstraktem und symbolischem Denken, also Eigenschaften, die wir für lange Zeit nur dem modernen Menschen zugeschrieben haben.
Es gibt Hinweise, dass beide voneinander lernten als sie vor 100.000 bis 50.000 Jahren koexistierten. Homo sapiens dürfte vom Neandertaler die Herstellung eines Werkzeugs zum Glätten von Leder gelernt haben, Neandertaler vom Homo sapiens die Herstellung neuer Klingen. Immer mehr Wissenschafter_innen lehnen deshalb die Vorstellung ab, der Neandertaler sei ausgestorben, weil er eine dumme Kreatur war. Als Erklärung für die Verdrängung der Nomad_innen durch Sesshafte vor ungefähr 10.000 Jahren geht man auch nicht davon aus, dass Erstere dümmer waren. Der größte Unterschied dürften die verschiedenen Lebensweisen, basierend auf Kultur und Tradition, gewesen sein. Inzwischen ist bekannt, dass sich Homo sapiens und Homo neanderthalensis gepaart haben.
Zusammen mit dem Wissen über ihren kulturellen Austausch spricht viel dafür, dass der moderne Mensch die Neandertaler nicht mit Gewalt ausgerottet hat. Es braucht auch im Tierreich keine Gewalt um eine Spezies durch eine andere zu verdrängen, sie muss nur erfolgreicher sein um das in wenigen tausend Jahren zu bewirken. Eine Art vermehrt sich schneller und braucht so die Ressourcen für beide Arten schneller auf. Dabei sinkt die Vermehrungsrate der unterlegenen Art so weit, bis sie zur Arterhaltung nicht mehr ausreicht. Wissenschaftliche Modelle gehen davon aus, dass im Falle von Neandertaler und Mensch ganze eintausend Jahre dafür ausgereicht hätten.
Entwicklung zum Homo Habilis
Friedrich Engels hat 1876 eine Abhandlung mit dem Titel Anteil der Arbeit an der Menschwerdung des Affen veröffentlicht. Darin stellt er folgende Überlegung an: Die aufrechte Haltung und die Beweglichkeit des Daumens haben sich kombiniert entwickelt. Eine aufrechte Körperhaltung erlaubte eine immer freiere Nutzbarkeit der Hände. Die befreiten Hände konnten mit Werkzeugen hantieren und schließlich selbst Werkzeuge herstellen, um damit andere Werkzeuge zu perfektionieren und ganz neue Werkzeuge herzustellen. Ein scheinbar endlos nach vorne gerichteter Prozess wurde von unseren Vorfahren in Gang gesetzt, in dessen Verlauf wir immer neue Rohstoffe zu nutzen lernten, die uns wieder völlig neue Möglichkeiten eröffneten.
Dieser Prozess, der uns dazu ermächtigt hat, zum Mond zu fliegen oder Gravitationswellen zu messen, wurde von unseren Vorfahren vor mindestens zwei Millionen Jahren begonnen. Homo habilis, der geschickte Mensch, wird der vermutliche Vorfahr von uns genannt (manche nennen ihn wegen seiner anatomischen Merkmale auch Australopithecus habilis), der begann Steinwerkzeuge herzustellen (auch Homo ergaster kommt dafür infrage). Hölzerne und knöcherne Werkzeuge sollten wir schon viel länger verwendet haben. Der aufrechte Gang und die befreite Hand waren aber keine isolierten Eigenschaften, sondern entwickelten sich gemeinsam mit Geselligkeit und Neugier.
„Kurz, die werdenden Menschen kamen dahin, daß sie einander etwas zu sagen hatten. Das Bedürfnis schuf sich sein Organ.“
Engels schrieb: „Die mit der Ausbildung der Hand, mit der Arbeit, beginnende Herrschaft über die Natur erweiterte bei jedem neuen Fortschritt den Gesichtskreis des Menschen. An den Naturgegenständen entdeckte er fortwährend neue, bisher unbekannte Eigenschaften. Andrerseits trug die Ausbildung der Arbeit notwendig dazu bei, die Gesellschaftsglieder näher aneinanderzuschließen, indem sie die Fälle gegenseitiger Unterstützung, gemeinsamen Zusammenwirkens vermehrte und das Bewußtsein von der Nützlichkeit dieses Zusammenwirkens für jeden einzelnen klärte. Kurz, die werdenden Menschen kamen dahin, daß sie einander etwas zu sagen hatten. Das Bedürfnis schuf sich sein Organ ….“
Und tatsächlich hat man inzwischen Hinweise darauf, dass Homo habilis Basislager hatte, zu welchen die Mitglieder der Gruppe zurückkamen um ihre Jagdbeute oder Gesammeltes untereinander aufzuteilen. Es gibt Funde, die darauf schließen lassen, dass sie schon Hütten bauten und roten Ocker als Dekoration oder als Körperbemalung verwendeten, was auf abstrakte Vorstellungskraft hinweist. Das deutet alles auf eine stetig zunehmende Komplexität des Soziallebens hin, auf Übermittlung von Kultur, auf Kommunikation mit Symbolen, auf zunehmende künstlerische und intelligente Ausdrucksformen bei archaischen Menschen. Charles Woolfson schrieb: „Die Grundgedanken von Engels‘ Theorie sind im Großen und Ganzen durch zeitgenössische Forschung bestätigt worden“, und „Engels‘ Abhandlung ist eine brillante wissenschaftliche Vorwegnahme von dem, was wir heute das wahrscheinlichste Muster der menschlichen Evolution nennen.“
Kultur, Sprache, Bewusstsein
Die Erzeugung von Steinwerkzeugen ist ein äußerst komplexer Vorgang. Die körperlichen Voraussetzungen dafür haben sich nur schrittweise entwickeln können, seit sich die Gattungen Homo und Pan (Schimpansen) vor sieben bis zehn Millionen Jahren getrennt haben. Der Daumen musste seine moderne Position einnehmen und ein fester Griff musste sich entwickeln. Und die Auge-Hand-Koordination musste perfektioniert werden (nach wie vor keine gegebene Selbstverständlichkeit, wie jeder weiß, der mit Kindern zu tun hatte). Noch interessanter für unsere Diskussion sind die sozialen Voraussetzungen, die dafür von unseren Vorfahren entwickelt werden mussten. Gemeinsam mit den genannten Fähigkeiten musste sich natürlich das Gehirn vergrößern, was umgekehrt durch den Werkzeuggebrauch ermöglicht wurde. Unsere Vorfahren bekamen Zugang zu immer neuen, leichter verdaulichen Nahrungsmitteln.
Wir stoßen immer wieder auf das „ewige Dreieck der Homininenevolution.“ Die drei Eckpunkte sind Wandel der Ernährung, soziale Kooperation, und detaillierte Kenntnisse über die Umwelt. Um aus einem Brocken Feuerstein eine Handaxt herzustellen, muss man zuallererst wissen, wo man das Material findet. Bei der Herstellung müssen zahlreiche Steinsplitter abgeschlagen werden. Jeder Schritt muss sich einem nicht unmittelbar sichtbaren Endziel unterordnen, also geplant sein. Die Eigenschaften des Steins müssen sich dem Hersteller erschließen. Er oder sie muss faktisch „sehen“ können, wo der Splitter abbrechen wird. Solche Fähigkeiten können nur in gesellschaftlich organisierter Arbeit entwickelt werden und dafür bedarf es einer ausgefeilten Kommunikation. Es deutet viel darauf hin, dass unsere kognitiven und sozialen Fähigkeiten zusammen mit dem Wachstum des Gehirns vor zwei bis drei Millionen rasante Fortschritte gemacht haben.
Auch die Ausbildung der für Sprachentwicklung bedeutsamen Broca-Region und der Wernicke-Region im menschlichen Gehirn dürfte schon vor zwei bis drei Millionen Jahren stattgefunden haben. Auffällig ist dabei auch, dass wir rein physisch immer weniger wehrhaft wurden. Unsere Eckzähne waren nicht mehr die gefährlichen Waffen, die sie etwa beim Schimpansen darstellen. Die Backenzähne wurden kleiner, weil wir nicht mehr so viel zähe Fasern verdauen mussten. Der gesamte Körperbau wurde schlanker. Die physischen Unterschiede zwischen den Geschlechtern nahmen ab. Das heißt, dass die Entwicklung unserer kognitiven (geistigen) und sozialen Fähigkeiten im Fokus der menschlichen Evolution standen. Anders gesagt: die einfühlsamsten und kommunikativsten unserer Vorfahren brachten die Entwicklung voran.
Wir dürfen heute das Bild des blutrünstigen Wesens, als das wir und unsere Vorfahren so gerne dargestellt wurden, getrost auf die Müllhalde der Geschichte werfen. Unterdrückung und Grausamkeit, gegen die so viele Menschen rebellieren, sind nicht das Ergebnis unserer Biologie, sondern das Produkt von Geschichte und Politik.
Der nächste Entwicklungsschritt für die Menschheit muss ein gesellschaftlich/ökonomischer sein, nämlich die Überwindung der Klassengesellschaft, das Ende der Herrschaft der Profite und der Unterdrückung.