EU-Grenzschutzagentur Frontex: Grausamkeit mit System
Millionen Menschen fordern legale, sichere Fluchtwege und eine menschliche Asylpolitik. Die Entwicklung hin zur „Festung Europa“ ist nicht einfach passiert. Die beinharte Kontrolle der gemeinsamen Außengrenze ist schon seit dem Vertrag von Maastricht im Jahr 1992, der offiziellen Geburtsstunde der EU, ein zentraler Bestandteil der europäischen Politik. In den 1990er-Jahren erlebten wir die gemeinsame europäische Agenda der „Harmonisierung“ der Einwanderungspolitik und der Verteidigung der Außengrenzen, während das Niveau der Zusammenarbeit in fast allen anderen Politikbereichen der EU fehlte (siehe Chronologie unten).
EU – nach außen hin eine Festung
Die ideologische Grundlage für eine Festung Europa war der freie Personenverkehr innerhalb der EU, die Öffnung der Binnengrenzen in Europa durch das Schengen-Abkommen im Jahr 1995. Fabrice Leggeri, Chef der EU-Grenzschutzagentur Frontex, bestätigt: „Um einen funktionierenden Schengen-Raum zu haben, brauchen wir eine wirksame Außengrenze. Darum wurde Frontex gegründet.“ Der Kampf der europäischen kapitalistischen Klassen um eine glaubwürdige Wirtschaftseinheit, umfasste eine gemeinsame politische Basis, die nur theoretisch von internationalen Menschenrechtsverpflichtungen bestimmt wird. Die grundlegend undemokratischen Strukturen der EU stellten diese autoritäre Transformation sicher.
Die dichte EU-Außengrenze ist wesentlich für die ideologische Konstruktion einer speziellen „europäischen“ Identität mit Engagement für Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und den Prinzipien der Aufklärung. Der Mythos ist fragil, weil er die Tatsache leugnet, dass die meisten europäischen Nationen eine lange und komplexe Geschichte der kontinuierliche Aufnahme von „äußeren“ Einflüssen und Vermischung der verschiedenen Sprachen, religiösen und ethnischen Traditionen haben. Die elitäre Verklärung der EU beendete aber nicht die schrille, nationalistische Rhetorik der einzelnen Nationalstaaten. Die „Europäische Agentur für die operative Zusammenarbeit an den Außengrenzen“ (Frontex) war in den letzten Jahren regelmäßig im Zentrum von Kritik der UNO-Flüchtlingsorganisation UNHCR.
Krieg gegen Flüchtlinge
Das illegale Abdrängen von Flüchtlingsbooten, sogenannte Push-Backs, musste Frontex nach erdrückenden Beweisen zugeben. Diese lebensgefährliche Praxis ist für den Europa- und Völkerrechtler Andreas Zimmermann ein systematischer Verstoß gegen die europäische Menschenrechtskonvention: „Die Frontex-Richtlinie sieht eine Rückführung der Flüchtlinge vor, ohne dass es zu einer individuellen Prüfung kommt, ob einem Flüchtling im Abschiebeland Folter droht oder nicht.“
Frontex behauptete, zwischen Januar und September seien 710.000 Flüchtlinge und „illegale Migranten“ in die EU gelangt. Später musste Frontex einräumen, Flüchtlinge mehrmals gezählt zu haben, erst in Griechenland und später auf ihrem weiteren Weg in Ungarn oder Kroatien. Migrationsforscher Nando Sigona, Universität von Birmingham, betont den Einfluss der falschen Zahlen „auf die moralische Panik gegenüber Migration und auf die politische Debatten.“ Frontex profitiert von der selbst erzeugten Panik. Das Budget für die Operationen „Triton“ und „Poseidon“ im Mittelmeer und für intensivierte Grenzkontrollen wurde von der EU 2015 verdreifacht. Frontex entwickelt auch ein automatisiertes Landdrohnensystem „Talos“.
Menschenrechtsverletzungen
Die EU fordert ein Mandat vom UNO-Sicherheitsrat für Militärschläge gegen Flüchtlingsboote. In einem Strategiepapier werden Bodentruppen angedacht. Mit Diktatoren von Drittstatten (Weißrussland, Libyen, Tunesien, Algerien) schließt die EU Abkommen und zahlt, damit diese „Pufferzonen“ gegen Flüchtlinge organisieren. Frontex schickt Verbindungsbeamte nach Nordafrika, Osteuropa und in den Mittleren Osten, um in Kooperation mit Polizei und Geheimdiensten eine Vorverlagerung der EU-Außengrenze bis in die Sahara, an die türkisch-iranische Grenze oder an den Ural zu erreichen. So wird die Grenze von Europa immer weiter weggerückt und tödliche Folgen dieser Politik bleiben verborgen.
„Die Frontex-Richtlinie sieht eine Rückführung der Flüchtlinge vor, ohne dass es zu einer individuellen Prüfung kommt, ob einem Flüchtling im Abschiebeland Folter droht.“
Die Türkei, welche schon 2,2 Millionen Flüchtlinge aus Syrien beherbergt, soll Europa von Flüchtlingen abschotten. Die EU hat der Türkei dafür Milliarden als Finanzhilfe, Visa-Erleichterungen und eine Wiederbelebung des Beitrittsprozesses versprochen. Ein ähnliches Geschäft plant die EU auch mit dem Libanon und Jordanien. Im Libanon, flächenmäßig etwa so groß wie Oberösterreich, leben nach Angaben des UNHCR 1,15 Millionen registrierte Flüchtlinge, in Jordanien 650.000. Die Solidarität bei der Verteilung von Flüchtlingen ist bloße Rhetorik.
Keine europäischen Werte
Die jüdische Philosophin Hannah Arendt erkannte während des Zweiten Weltkriegs: Wer seine Staatsbürgerschaft verliert, verliert nicht weniger als das Recht, Rechte zu haben. Diese jetzige Reaktion erinnert an die nationalistische Politik der westlichen Staaten in jener Zeit. Jüdische Flüchtlinge, in kaum seetauglichen Schiffen zusammengepfercht, wurden auch als „illegale Einwanderer“ bezeichnet. Großbritannien, Frankreich und die USA verweigerten nach dem Beschluss der Konferenz von Evian 1938 die Einreise. Die westlichen Regierungen argumentierten, dass ihre Länder bereits mit jüdischen Flüchtlingen „gesättigt“ seien.
Die Flüchtlingskonvention von 1951 wurde von den Vereinten Nationen als Reaktion auf die katastrophalen Folgen dieser Entscheidung ausgearbeitet. Ein streng begrenzter Rechtsbegriff des „Flüchtlings“ als Opfer spezifischer Formen der politischen Verfolgung wurde definiert. Aber das Hauptprinzip der „Nicht-Zurückweisung“ an einen Ort, wo Leben oder Freiheit gefährdet sind, ist ein bindender Bestandteil des Völkergewohnheitsrechts und gilt für alle Staaten. Die europäische Politik schafft sich selbst Gesetze und Instrumente um gegen Menschenrechte routinemäßig zu verstoßen.
Veranstaltungstipp: Donnerstag, 7. Jänner um 19 Uhr im Amerlinghaus Wien, Gruppenabend zu Frontex: Grausamkeit mit System
Tipp zum Weiterlesen (auf Englisch): Fran Cetti, Fortress Europe: The war against migrants
Chronologie: Europäische Asylpolitik
- 1957 Römische Verträge: Erste Formulierung der europäischen Asyl- und Flüchtlingspolitik: Entwicklung eines europäischen Binnenmarktes
- 1985 Schengener Abkommen, 1986 Europäische Akte: Abschaffung von Binnengrenzkontrollen in der EU, Kompensierung von Sicherheitsrisiken
- 1992 Maastricht-Vertrag: Asyl- und Flüchtlingspolitik erstmals als „Angelegenheiten von gemeinsamem Interesse“ verfestigt, Entscheidungshoheit bleibt bei den Mitgliedsstaaten
- 1997 Vertrag von Amsterdam: Flüchtlings- und Asylpolitik verlagert von bloßen zwischenstaatlichen Abkommen auf höhere, überstaatliche Ebene (allerdings immer noch Einstimmigkeit erforderlich)
- 2004 Haager Programm: Ein zweistufiger Plan Asylpolitik EU-weit zu harmonisieren, Fokus auf „illegale“ Migration und Schutz der EU-Außengrenzen
- Seit 2004 Frontex: „Europäische Agentur für die operative Zusammenarbeit an den Außengrenzen der Mitgliedstaaten der Europäischen Union“ (Frontex): gemeinsames Grenzschutzsystem
- 1. Phase der EU-Asyl- und Flüchtlingspolitik bis 2006, vier Rechtsinstrumente als Grundlage zur Vereinheitlichung:
a) Dublin-Verordnung: Asylsuchende müssen Asylantrag in dem EU-Mitgliedsstaat stellen, welcher zuerst betreten wurde bzw. können dorthin zurückabgeschoben werden. Automatisiertes System EURODAC dient dem Informationsaustausch zum Vergleich der Fingerabdrücke.
b) Drei Richtlinien für Minimalbedingungen der Asylsysteme: Vorgabe von Mindeststandards in Aufnahme und Versorgung von Asylbewerbern, die Qualifikationsrichtlinie für Schutz von Flüchtlingen auf Basis der Europäischen Menschenrechtskonvention nach Artikel 33 der Genfer Flüchtlingskonvention und Artikel 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention.
c) Asylverfahrensrichtlinie für Mindestnormen - 2. Phase der EU-Asyl- und Flüchtlingspolitik seit 2006: Schwerpunkt Lastenteilung in der EU und engere Zusammenarbeit mit Drittstaaten (siehe Artikel), Neufassung der Asylverfahrensrichtlinie z.B. für gemeinsame Verfahren für die Zu- und Aberkennung des internationalen Schutzes und für Normen bei Aufnahme von Schutzbedürftigen
2010-2014 Stockholmer Programm Richtlinien für eine gemeinsame EU-Innen- und Sicherheitspolitik mit Schaffung von Interoperabilität von Polizei-Datenbanken, zentralem Bevölkerungsregister, grenzüberschreitenden Onlinedurchsuchungen, besserer Satellitenüberwachung, Risikoanalyse mittels Software, gemeinsame Abschiebeflugzeuge und -flüge, neue Flüchtlingslager in Drittstaaten, Einsatz des Militärs zur Migrationsabwehr, polizeiliche Interventionen auch außerhalb der EU, Ausbau der Europäischen Gendarmerietruppe und der Zusammenarbeit der In- und Auslandsgeheimdienste, etc.