Auch Sebastian Kurz wird noch in der Realität ankommen
Was waren und sind die großen Projekte einer österreichischen Regierung? Sie muss – aus Sicht der Wirtschaftsbosse – einen Befreiungsschlag für das Kapital schaffen, das heißt, neoliberale Reformen à la Deutschland durchführen.
Die „Arbeitszeitflexibilisierung“ ist/war die aktuelle Großbaustelle der Regierung. Ex-ÖVP-Vorsitzender Reinhold Mitterlehner hat jahrelang auf sie gepocht, und SPÖ-Vorsitzender Christian Kern hat sie ins Zentrum seines „Plan A“ gestellt. Im Grunde geht es bei der harmlos klingenden Arbeitszeitflexibilisierung um eine Rücknahme von Arbeitnehmerschutzmaßnahmen, die Mehrarbeit ohne Bezahlung von Überstunden-Zuschüssen zur Folge hätten.
Keine Mehrarbeit zum Nulltarif
Gescheitert ist sie am Widerstand der Gewerkschaften. Unbeachtet von den Medien und Analysten haben Gewerkschaften und Teile der SPÖ-Sektionen am 1. Mai dem Kanzler unmissverständlich Nein zu dieser „Reform“, sprich diesem Sozialabbau signalisiert. ÖGB-Präsident Erich Foglar stand neben Kanzler Kern am großen Podium am Rathausplatz und wetterte gegen die Pläne der Wirtschaftsbosse: „Überstunden bleiben Überstunden, und sind als solche mit Zuschlägen zu bezahlen. Mehrarbeit zum Nulltarif – nicht mit uns!“
In Wahrheit war der Bundeskanzler genauso Adressat der Kampfansage wie die Industriellen. Arbeitszeitflexibilisierung ist aus Sicht der Arbeitnehmer_innen nichts anderes als „brutaler Lohnraub“ (Roman Hebenstreit, Vida-Vorsitzender) und Mehrbelastung, ein inakzeptabler Rückschritt nach all den Zugeständnissen der Gewerkschaften in Zeiten der Wirtschaftskrise, die von den Unternehmern natürlich niemals so honoriert wurden, wie sie es versprochen hatten.
Das Njet der Gewerkschaften
Es ist ganz einfach kein Zufall, dass der Putsch von Sebastian Kurz und seinen Unterstützern, allen voran Reinhold Lopatka und Wolfgang Sobotka, so kurz nach dem 1. Mai durchgeführt wurde. Seit der Kampfansage des ÖGB herrscht in der ÖVP Verzweiflung.
Am 6. Mai war die nächste Verhandlungsrunde für die Arbeitszeitflexibilisierung. ÖGB und Arbeiterkammer stemmten sich erfolgreich dagegen, und Finanzminister Hans Jörg Schelling warf das Handtuch: „Die Sozialpartnerschaft ist tot. Sie weiß es nur noch nicht.“ und „Ich erwarte, dass die Sozialpartner so wie in den vergangenen 25 Jahren keine Lösung zustande bringen.“ Tags darauf, am 7. Mai attackierte Innenminister Sobotka den Kanzler und meinte, dieser hätte „versagt“. Damit war der Putsch in Gang gesetzt.
Liste Kurz vor demselben Dilemma wie ÖVP
Das Kalkül der ÖVP: Wollte man mit der SPÖ weiter regieren, dann müsste diese endlich die Gewerkschaften entmachten. Daran ist aber schon Alfred Gusenbauer gescheitert, sein Nachfolger Faymann hat es gar nicht erst richtig versucht.
Bleibt nur die FPÖ als Regierungspartner um die Gewerkschaften zu schlagen – und die droht bei kommenden Wahlen zu stark zu werden um dann einen Liste-Kurz-Kanzler einfordern zu können. Also ginge das Dilemma der letzten Jahre weiter, oder man gibt sich mit dem Vizekanzler unter Strache zufrieden – für Kurz und Konsorten kaum vorstellbar.
Diese verzwickte Situation hat die ÖVP-Granden weich geklopft und Sebastian Kurz marschierte mit seinen momentan sehr guten Umfragewerten im Gepäck über den Rubikon.
Deutschlands Konkurrenzdruck
In demselben Dilemma stecken natürlich auch die anderen EU-Staaten. Deutschland akkumuliert seit Jahrzehnten seine wirtschaftlichen Vorteile und zwingt den anderen EU-Staaten über das Europäische Währungssystem (EWS) einen Wechselkursmechanismus auf, der Deutschland erlaubt, seine „Partner“ zu dominieren und zu Nettoimporteuren zu degradieren.
Eine Komponente des deutschen Wirtschaftsmodells war der vernichtende Sieg der Regierung von Kanzler Schröder über die Gewerkschaften; Stichwort Agenda 2010 und Hartz IV. Diese wirklich einschneidenden Sozialabbaumaßnahmen haben den Arbeitnehmer_innen massiven Reallohnverlust beschert und den Unternehmern riesige Profite und Wettbewerbsvorteile innerhalb der EU verschafft.
Österreich und die anderen EU-Partner stehen unter dem Druck der deutschen „Exportmaschine“, daher die unentwegte Forderungen an die Regierung durch die Industrie es endlich Deutschland gleich zu tun.
Gewerkschaftsspitze kämpft um Verhandlungsmandat
Nur haben sich die österreichischen Gewerkschaften noch lange nicht geschlagen gegeben. ÖGB-Chef Foglar signalisiert zwar gleichzeitig mit der Kampfansage am 1. Mai Gesprächsbereitschaft: „Wir sind bereit über mehr Flexibilität zu reden. Aber nur, wenn die anderen auch bereit sind, über eine Arbeitszeitverkürzung zu reden und zu verhandeln, denn die Frage der Arbeitszeitverkürzung ist eine zentrale Frage der Verteilungsgerechtigkeit.“ Allerdings setzt er mit der Forderung nach Arbeitszeitverkürzung Grenzen, die für die österreichischen Kapitalisten völlig inakzeptabel sind.
Wir aus der radikalen Linken sind gewöhnlich mit der Kampfbereitschaft des ÖGB mehr als unzufrieden, dabei dürfen wir aber nicht übersehen, dass die österreichischen Gewerkschaften einem Großangriff des Kapitals wie in Großbritannien unter Thatcher oder in Deutschland unter Kohl und Schröder vergleichsweise sehr erfolgreich widerstanden haben.
All den seltsamen Analysen der aktuellen Regierungskrise ist eines gemeinsam, sie sind völlig blind für den Klassenkampf, der sich vor ihren Augen abspielt und sie ignorieren die Rolle, die der ÖGB seit dem Ausbruch der großen Wirtschaftskrise gespielt hat. Sebastian Kurz mag sich nach dem Erfolg seiner Intrigen als Sieger fühlen, aber sollte er jemals regieren, dann wird auch er in der Realität ankommen. Die Gewerkschaften sind ein ganz anderer Gegner als die eigene hilflose ÖVP.