Die Hamburger Kids, die die Schlacht gegen die Polizei gewannen
Innenminister Thomas de Maizière sprach von „linken gewalttägigen Chaoten“ und „Kriminellen“, der SPD-Parteivorstand von „Protestterroristen“ und LINKEN-Chefin Sahra Wagenknecht von „kriminellen Gewalttätern“, die in der Nacht auf den 8. Juli die Polizei im Schanzenviertel im Hamburger Stadtteil St. Pauli bezwungen haben. Die „Autonomen“ und ein vermeintlich „Schwarzer Block“ werden von den Medien einhellig für die Gewalt in Hamburg verantwortlich gemacht. Aber so einfach ist es nicht.
Als es in der Nacht zur Straßenschlacht mit der Polizei kommt, rechtfertigen sich laut Zeit manche „Autonomen“ gegenüber Anwohner_innen: „Wir waren das nicht.“ Der Sprecher der „Roten Flora“, des autonomen Zentrums von Hamburg, Andreas Blechschmidt, beteuerte: „Wir haben den Eindruck gehabt, dass sich hier etwas verselbstständigt hat.“ Zweifel an diesem vereinfachten Bild hat auch Jan van Aken, stellvertretender Vorsitzender von DIE LINKE, der selbst in St. Pauli wohnt: „Es waren mit Sicherheit auch viele Jugendliche aus den Vorstädten dabei.“
Junge Barrikadenkämpfer
Sven Becker schilderte für Spiegel Online seine Eindrücke: „Nach allem, was ich vor Ort gesehen habe, waren am Freitag unterschiedliche Gruppen für die Krawalle verantwortlich.“ Er beobachtete Autonome, Demonstrant_innen aus Frankreich, Spanien, Griechenland oder Italien, Schaulustige. „Aber dann waren da auch noch größere Gruppen von jungen Männern, vermutlich aus den umliegenden Vierteln“, so Becker.
In Livestream-Videos ist gut dokumentiert, dass gewöhnliche Jugendliche – die sich offenbar spontan bunt gescheckte Tücher vor Mund und Nase banden, bunte Kapuzenpullover und T-Shirts trugen, Baseball-Mützen am Kopf – beim Barrikadenbau halfen, Flaschen warfen, Steine zusammen trugen.
Becker beschreibt, wie sich vor einer Budnikowsky-Filiale ein paar Männer aufstellten, die „nicht nach militanten Linken aussahen. Sie drucksten ein paar Minuten rum. Dann schoben sie sich Tücher vors Gesicht und traten auf die Tür der Filiale ein. Glas splitterte, die Scheiben gingen zu Bruch.“
Schanzenviertel verteidigt
Die Tagesschau berichtete, dass Jugendliche die Gelegenheit nutzten, um „einfach auch mal eine Flasche Richtung Polizei zu werfen, andere posieren für Selfies vor Polizei-Hundertschaften und Wasserwerfern.“
Mario Montes beschrieb auf Facebook, wie tausende Leute aus dem Viertel auf den Straßen waren: „Kids und andere kamen hier her. Viele von ihnen waren die, die viele Linke immer so gerne erreichen wollen. Es war nicht wie so oft vor der [Roten] Flora ein Ritual, sondern es war auch der Mittelfinger an das, was hier tagelang passiert ist.“
Diese Jugendlichen hatten am Freitagabend vorerst erfolgreich das Schanzenviertel am Neuen Pferdemarkt gegen die Polizei verteidigt und die Wasserwerfer an der Einfahrt in „ihr“ Viertel gehindert. Jugendliche saßen auf den Dächern und beklatschten das Geschehen (denselben Kids unterstellte die Polizei später Molotow-Cocktails vorbereitet zu haben und hetzte am selben Abend deutsche und österreichische Anti-Terror-Einheiten auf sie).
Jedes Mal gab es Applaus, wenn die Polizei in die Flucht geschlagen wurde, und Hunderte nahmen erneut triumphierend die Kreuzung ein. Szenen, die uns an die Aufstände in den Pariser Vororten („Banlieues“) von 2005 und an die „Riots“ 2011 in London erinnern.
Eskalation
Schon im Vorfeld der Anti-G20-Proteste brachte die Polizei Anwohner_innen gegen sich auf, als sie eigene Gefängnislager errichtete und über fünf Prozent der gesamten Stadt (unglaubliche 38 Quadratkilometer) ein Demoverbot verhängte. Tagelang kreisten Polizei- und Marinehubschrauber über der Stadt.
Spätestens in der Nacht auf Montag, 3. Juli verlor die Polizei den Kampf um die öffentliche Meinung, als sie die gerade errichteten Anti-G20-Protestlager räumen ließ. Der Hass auf die Uniformierten steigerte sich, als am Dienstag Polizisten das friedliche Zusammentreffen von Nachbar_innen zum Biertrinken an Straßenecken in St. Pauli (bekannt als „Cornern“) angriffen. Das gezielte Auseinanderjagen der „Welcome to Hell“-Demo am Donnerstag brachte dann das Fass zum Überlaufen. In dieser Nacht brannten die ersten Autos.
Reaktion auf Polizeiterror
Freitagnachmittag versammelten sich am Millerntor vor dem Stadion in St. Pauli an die 1.500 Demonstrant_innen, darunter viele Schüler_innen, wie der Tagesspiegel berichtete, aus Empörung über die Polizeieskalation am Vorabend. Ein junger Mann sagte, er sei hier, weil tags zuvor ein Freund von der Polizei zusammengeschlagen worden wäre und nun im Krankenhaus liege. Eine Frau erzählte: „Mein Sohn hat was abgekriegt. Die Polizei hat den Rechtsstaat außer Kraft gesetzt.“
Mehrere hundert von ihnen zogen am Nachmittag durch St. Pauli. Sie errichteten Blockaden, warfen Steine. Die Zeit hat berichtet, dass den ganzen Freitag über die Stimmung rund um den „Arrivati-Park“, einer eigens eingerichteten Protest-Wiese nahe des Eingangs zum Schanzenviertel „angespannt gewesen“ sei.
Was sich dann Freitagnacht in Hamburg abspielte, war nicht Ergebnis der Direkten-Konfrontations-Strategie der Autonomen, sondern eine Reaktion der Jugendlichen auf den Polizeiterror der Tage zuvor; auf eine Polizei, die nur auf Eskalation aus war und einen Vorwand suchte, drauf los zu schlagen (um zu gewinnen). Aber das Kalkül der Polizeiführung ging nach hinten los. Es waren die Hamburger Kids, die die Krawallpolizisten samt Sondereinheiten von Cobra und SEK besiegten.
Zorn verständlich
Einige, die zumindest erkannt haben, dass Jugendliche einen gewaltigen Anteil an der Schlacht gegen die Polizei hatten, sprechen ihnen allerdings jegliche politische Motivation ab. Die NachDenkSeiten vernadern die „Krawall-Kiddies“, für die Hamburg lediglich ein „Abenteuerspielplatz“ gewesen wäre, „apolitisch und inhaltsleer“. Auch Linkspartei-Politiker van Aken spricht von „sinnentleerter Gewalt“.
Der Zorn der Jugend ist verständlich – auf jene, die sie aus den Vierteln vertreiben, schikanieren und dann noch für mindestens 112 Millionen Euro ein Treffen der größten Kriegstreiber und Klimazerstörer auf der Welt in ihrer Stadt veranstalten. Die Wut richtete sich nicht nur gegen die Polizei, sondern auch gegen jene Läden, die für die Gentrifizierung von St. Pauli stehen. Geplündert wurden ein O2-Shop, ein Apple-Store, ein Geschäft für Designerkleidung.
Der aufgebrochene Rewe-Supermarkt und Budnikowsky-Drogerieladen mögen auf den ersten Blick nicht in dieses Schema passen – aber so eine Straßenschlacht kostet eben auch Kraft. So überraschen uns die Bilder von manchen Jugendlichen, die mit Chips und Bier gemütlich über die zerbrochenen Schaufensterscheiben aus dem Budni spazierten, nicht wirklich.