„95 Prozent der Schlepper sind Schutzengel“

Omer Rahimi* ist aus Afghanistan nach Österreich geflüchtet. Die "Neue Linkswende" hat ihn nach seinen Erfahrungen auf der Flucht gefragt.
26. Mai 2015 |

Neue Linkswende: Warum musstest du dein Land verlassen?

Omer: Ich wollte eigentlich nicht aus Afghanistan weg. Aber wenn du dich nicht sicher fühlst und dein Leben aus politischen oder religiösen Gründen in Gefahr ist, dann hast du keine andere Wahl. Die einzige Möglichkeit ist dann, dein schönes Land zu verlassen, für deine eigene Zukunft.

Wie hast du die Flucht organisiert?

Es ist nicht leicht einen Schlepper zu finden. Du musst monatelang suchen, um einen zu finden. Ich habe dann mit der Hilfe von Freunden und Familie endlich jemanden gefunden, der in meinem Land lebt.

Viele Politiker in der EU sagen, dass Schlepper das eigentliche Übel sind und Flüchtlinge ausbeuten. Was würdest du ihnen aus deiner Erfahrung heraus entgegnen?

Wir können sie nicht böse nennen, denn es sind nicht die Schlepper, die uns darum bitten, nach Europa zu gehen. In Wahrheit ist es so: Wenn du dein Land verlassen musst, dann brauchst du einen Schlepper, der dich nach Europa bringt, wo es sicher ist. Meiner Meinung nach sind 95% der Schlepper Schutzengel, und nur 5% behandeln dich in irgendeiner Form schlecht.

Auf welchem Weg bist du nach Österreich gekommen?

Für dich wird das wie ein Märchen klingen, aber es ist meine Geschichte: Meine Flucht hat mehr als 15 Monate gedauert. Erst war ich zwei Monate in Pakistan, dann bin ich zwei Wochen lang in den Iran geflohen und habe dort ein Jahr meines Lebens verbracht. Von dort nach Österreich habe ich einen Monat gebraucht. Ich weiß nicht, wie wir gefahren sind oder durch welche Länder ich gekommen bin. Wenn man tagelang eingesperrt in einem LKW sitzt oder in einem dunklen Raum in einer Wüste oder in einem Dschungel, und wenn du nur den Wind hörst und die Laute der Tiere – wie sollst du dann wissen, wo du bist? Ich kann mich aber sehr gut erinnern, dass ich über Straßen, über Flüsse, durch den Dschungel, die Wüste und über das Meer gekommen bin.

Was waren die größten Gefahren auf deiner Flucht?

Ich war auf einem neun Meter langen Luftkissenboot. Wir waren 70 Personen, unter uns vier Frauen und fünf Kinder. Der Schlepper hat uns einfach gezeigt, wohin wir müssen und uns gesagt, wir müssten das Boot steuern. Sie haben uns an der Küste allein gelassen. So sind wir also mehr als zwei Stunden gefahren und irgendwann waren wir im Meer verloren.

Das Boot hat angefangen zu sinken und wir haben versucht, mit Händen und leeren Flaschen das Wasser daraus zu schöpfen. Die leeren Flaschen hatten wir eigentlich in unsere Jacken gesteckt, um sie im Notfall als Schwimmwesten nutzen zu können. Wir glaubten auf hoher See verloren zu sein und unterzugehen. Die Frauen schrien um Hilfe, die Kinder haben geweint und wir haben versucht, uns irgendwie zu retten, aber es war hoffnungslos. Ich habe vor lauter Hilflosigkeit geweint. Es tut mir leid, aber was dann passiert ist, kann ich dir nicht erzählen, das ist zu privat.

Deine Flucht hat in Österreich geendet. Wie war die erste Zeit hier?

Ich wusste nicht, wo ich war, als ich in Österreich ankam. Ich habe die ganze Nacht im Regen verbracht, zugedeckt mit Plastikmüll, in einem Rohbau. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie du leidest, wenn du eine liebe Familie hattest und in Liebe aufgewachsen bist, und dann findest du dich mitten in der Nacht in Plastik eingewickelt wieder. In einem Land, von dem du nichts weißt.

Wie geht es dir inzwischen? Belastet dich das, was du auf der Flucht erlebt hast, noch sehr?

In der Situation selbst, während du versuchst Europa zu erreichen, vergisst du all die Gefahren um dich herum. Aber bis du da bist, hast du dem Tod schon 1.000 Mal ins Auge geblickt.

Wie ist dein Status jetzt, darfst du hier bleiben?

Ich warte immer noch auf das Urteil in meinem Fall. Aus irgendeinem Grund dauert es mehr als einen Monat, bis man eine Antwort von der Polizei oder den Richtern bekommt. Und es dauert oft mehr als sechs Jahre, bis man Asyl bekommt.

Wenn du über die Migrationspolitik in Österreich entscheiden könntest, was würdest du ändern?

Wenn ein Bruder, eine Schwester, ein Kind oder irgendein Mensch zuhause in Lebensgefahr ist und du nichts tust, dann begehst du eine Sünde. Warum nimmst du nicht seine Hand und bringst ihn außer Gefahr? Ich bitte die Regierungen von Österreich und Europa freundlich darum, die Grenzen offen zu lassen und den Menschen zu helfen, die in ihrem Land leiden. Lasst sie nicht länger auf die Urteile der Gerichte warten.

Was sind deine persönlichen Ziele?

Ich habe Österreich nie als mein zweites Land empfunden, es war für mich immer mein eigenes Land, dem ich helfen und dem ich dienen will. Wenn es in meinem Land sicher wäre, wäre ich jetzt Lehrer oder Geschäftsmann oder Politiker oder Mechaniker. Und in derselben Weise möchte ich hier helfen.

*Name wurde von der Redaktion geändert. Aus Angst vor Polizei und Justiz möchte Omer Rahimi anonym bleiben. Das Interview führte Hannah Krumschnabel.
Der Verfasser/die Verfasserin hat den Artikel mit freundlicher Genehmigung zur Verfügung gestellt.