Die Stärken und Schwächen marxistischer Imperialismustheorien
Bereits antike Stadtstaaten betrieben Geopolitik mit allem, was dazugehört: Krieg, Massenmord, technologische Entwicklung usw. Darum ist Geopolitik kein „rein“ kapitalistisches Phänomen. Insofern haben nervige Konservative teils recht, wenn sie der linken Parole: „Der Kapitalismus trägt den Krieg in sich wie die Wolke den Regen“ (Jean Jaures), ein „Krieg gibt es, seit Staaten existieren“, entgegenschleudern. Die sozialwissenschaftliche Haupttheorie, um kriegerische Konflikte zu verstehen, ist die sogenannte „realistische Schule“ der Geopolitik. Zentral für diese Theorie ist auch ihr Angriff auf den Marxismus für seine (scheinbare) Reduktion von Kriegen auf ökonomische Interessen.
Die Soziologen Anthony Giddens und Michael Mann legten die Grundlage für die realistische Schule der Geopolitik. Sie argumentierten, dass der Staat dem Kapitalismus historisch vorausgeht. Die Bürokratie des Staates entstand aus ihrer Perspektive primär aus der Notwendigkeit, Kriege zu organisieren. Zusammenfassend: „Kapitalismus ist nicht schuld am Militarismus, sondern der ‚Ursprung des Militarismus ist in einem mehrstaatlichen System zu suchen, das dem Kapitalismus vorausging und in dem Kriege während der gesamten aufgezeichneten Geschichte ein normales und oft rationales Element waren‘.“
Kriegsmaschine
Anknüpfend an diese Überlegung stellt die realistische Schule der Geopolitik fest: „Die Ambitionen von Staaten wachsen, proportional zu den Möglichkeiten, diese Ambitionen umzusetzen. Beispielsweise: Die Ambitionen des Habsburgerreiches als militärisch wie ökonomisch untergeordneter Staat zu Beginn des 20. Jahrhunderts richteten sich in einer Konkurrenzsituation zu Russland und dem Osmanischen Reich primär auf den Balkan. Wohingegen das deutsche Kaiserreich als aufstrebende Industrie- und Militärmacht globale Machtansprüche hatte. Die unheilige Allianz Österreich – Deutschland, welche die Welt im 20. Jahrhundert in die Katastrophe stürzte, entsprang aus dieser Konstellation.
Auch wenn die Analyse des Staates als „Kriegsmaschine“ von Giddens und Mann ihre Berechtigung hat, ihre Attacken auf die marxistischen Imperialismustheorien basieren auf einer falschen Lesart. Imperialismus ist ein System, indem die geopolitischen Wettbewerbe zwischen Staaten und die ökonomische Konkurrenz zwischen Unternehmen ineinanderfließen, so beschreibt der britische Marxist Alex Callinicos dieses System in seinem Buch „Imperialism and the global political Economy“. Gerade das Ineinanderfließen dieser zwei Sphären ist das Spezifische am Imperialismus. Wenn wir versuchen, die aktuellen Konflikte, ob Ukraine oder Gaza zu verstehen, müssen wir demnach analysieren, welche politischen und ökonomischen Kräfte in diesen Konflikten wirken.
Die vergangenen Jahrzehnte zeichneten sich dadurch aus, dass die USA ihre nach 1945 gewonnene Position als globale Führungsmacht manifestieren konnten. Der Zusammenbruch der Sowjetunion führte in eine unipolare Weltordnung, in der die USA als de facto Weltpolizist globale Herrschaft ausüben konnten. Die politische wie ökonomische Krise der USA, kontrastiert durch den politischen und ökonomischen Aufstieg Chinas, führen aktuell dazu, dass dieser globale Führungsanspruch zunehmend auf schwächeren Beinen steht. Ergänzt wird der Aufstieg Chinas durch ein zunehmendes Selbstbewusstsein ehemaliger Kolonien und unterdrückter Nationen. Eine Weltmacht steigt ab, eine Weltmacht steigt auf/will aufsteigen, das gleicht der Konstellation vor dem Ersten Weltkrieg oder dem 30-jährigen Krieg.
Antikoloniale Erfolge
Neben der „realistischen Schule der Geopolitik“ existiert mit den „Postkolonialen Theorien“ eine zweite Theorieströmung, welche sich an der Analyse globaler Herrschaft versucht. Auch wenn wir uns in politischen Konflikten oft auf derselben Seite wie Vertreter post-kolonialer Theorie finden, als Analysewerkzeug greifen sie zu kurz.
Kolonialismus bedeutet die Herrschaft von mächtigen Staaten über schwache (Kolonien), im Unterschied zu dem Begriff Imperialismus, das den Wettbewerb zwischen mächtigen Staaten unter sich bezeichnet. Dies bedeutet jedoch nicht, dass sich Imperialismustheorien nicht mit der Ausbeutung des globalen Südens durch den globalen Norden auseinandersetzen. Ob Luxemburg oder Lenin sie alle sahen Kolonialismus als zentralen Bestandteil des imperialistischen Systems und wussten, dass anti-koloniale Revolten entscheidender Baustein für die sozialistische Weltrevolution waren. Die Schwäche post-kolonialer Theorien wurzelt viel eher darin, dass wir nicht mehr im 19. Jahrhundert mit einem westeuropäischen kolonialen Zentrum und einer globalen Peripherie leben, sondern dank anti-kolonialer Erfolge mittlerweile in einem globalisierten kapitalistischen System mit einander bekriegenden oder kooperierenden Mächten.
Man denke an einen Staat wie China, der nach dem ersten Opiumkrieg 1839 zu einer de facto Kolonie Englands wurde, dann über Widerstand gegen japanische Besatzung 1937-1945 und Bürgerkrieg von Mao 1949 in seiner heutigen Form gegründet wurde. 1971 wurde die Volksrepublik China dank der Unterstützung post-kolonialer Staaten in Afrika und des sowjetischen Blocks gegen den Willen der USA in den Sicherheitsrat der UN gewählt. Mittlerweile ist China das zweite Zentrum des globalen Kapitalismus, es ist mit einer post-kolonialen Theorie, die von materiellem und kulturellem Weiterleben des Kolonialismus in der heutigen Zeit ausgeht, kaum zu beschreiben.
Auch eine Institution wie die OPEC entstand als Nebenprodukt anti-kolonialer Kämpfe und ist heute global ein relevanter Machtfaktor und entscheidend am Überleben des fossilen Kapitalismus beteiligt. Die OPEC wurde 1960 von Staaten der Peripherie im globalen Kapitalismus gegründet und konnte durch die Nationalisierung von Ölfeldern dem Westen die Kontrolle über diese wichtige Ressource in Ansätzen entreißen.
Ökonomische Herrschaft
Neben diesen Erfolgen anti-kolonialer Bewegungen ist festzuhalten, dass sich die globale Herrschaft des Kapitals primär durch wirtschaftliche Transaktionen von Kauf und Verkauf im Hintergrund, notfalls Waffengewalt, nicht durch kolonialen Raub oder Besatzung manifestiert. Einer der zentralen Unterschiede zwischen feudalen und kapitalistischen Wirtschaftsweisen ist gerade, dass ein mittelalterlicher König, der möglichst viel Gold haben wollte, versuchen musste, Goldminen zu kontrollieren und sie durch seine Untertanen ausbeuten zu lassen. Ein kapitalistischer Staat hat viel bessere Möglichkeit an natürliche Ressourcen zu kommen, als sie durch seine Untertanen herstellen zu lassen – Weiterverarbeitung, Handel, Investitionen in ausländische Firmen, usw. Der Einmarsch der USA im Irak war nicht einfach von klassisch kolonialer Politik geprägt: Übernahme der Ölfelder und Ausbeutung durch westliche Unternehmen. Viel eher wollten die USA eine Möglichkeit, Ölfelder zu kontrollieren, nicht so sehr, um sie selbst auszubeuten, sondern um notfalls andere Staaten vom Zugriff zum Öl auszuschließen.
Ein ähnlich wichtiges Mittel für die globale US-Dominanz wie Flugzeugträger ist der US-Dollar. Nach wie vor wird global primär in US-Dollar gehandelt (Leitwährung). Überweisungen, die in US-Dollar getätigt werden, müssen darum durch eine US-Bank geschleust werden. Wenn es US-Banken per Dekret verboten wird, mit spezifischen Playern zu kooperieren, ist dies eine Möglichkeit, das Mitmachen beim globalen Handel zu erschweren. Aktuell bekam die Raiffeisen aufgrund ihrer Dauergeschäfte mit Russland einen „Drohbrief“ der US-Sanktionsbehörde OFAC. Für von den USA nicht gewünschte Öl-Geschäfte mit dem Iran, Kuba und dem Sudan zwischen 2002 und 2009 musste die französische Bank BNP Paribas 2014 die Rekordstrafe von 9 Milliarden US-Dollar zahlen. Der französische Präsident Hollande konnte über die „ungerechtfertigte“ Behandlung „seiner“ Bank durch die USA toben, was er wollte: Die Macht des US-Dollars über den globalen Handel ist nicht verhandelbar.
Ideologie als dritte Komponente
Die dritte Komponente des Imperialismus, welche ab dem Punkt, an dem konkrete historische Ereignisse analysiert werden, notwendig wird, ist Ideologie. Der französische Medientheoretiker Jean Baudrillard zeigte durch Auswertungen von Gesprächsprotokollen nach 9/11, dass die USA von diesem Treffer so gedemütigt waren, dass sie Rache brauchten. Das Verlangen nach Rache ist kein einfacher Trick der Herrscher, um Soldaten zu rekrutieren, sondern sie meinen es ernst. Ob amerikanische, oder sonstige Politiker und Militärs mächtiger Staaten, sie werden im Selbstverständnis einer Überlegenheit – im Westen eher kulturell denn biologisch oder religiös begründet – erzogen. Die Niederlage demütigt dieses Selbstverständnis, Vergeltung muss die logische Konsequenz sein. Wiederum hat die „realistische Schule“ der Geopolitik nicht ganz unrecht, wenn sie das klassische Selbstverteidigungsdenken, wenn dich jemand attackiert, hau fester zurück, auf die Weltpolitik übertragen.
Das Problem mit Baudrillard und Co. entsteht dann, wenn das Ideologische als einziger Faktor verstanden wird. Beispielsweise, wenn die Vorstellungen der Rechten von einem angeblichen Krieg der Kulturen übernommen werden. Bei Baudrillard wirkt es punktuell so, als ob die USA einfach jemanden bombardieren mussten, darüber, warum gerade Afghanistan und der Irak ausgewählt wurden, macht er sich wenig Gedanken. Man hätte auch Saudi-Arabien bombardieren können, immerhin stammte Bin Laden und viele seiner Gefolgsleute von dort. Dass kein US-Politiker diese Idee propagierte, lag an den geopolitischen und ökonomischen Interessen. Insofern ist Ideologie das Benzin, welches dem Feuer des Imperialismus die richtige Brennstärke verleiht.
Ökonomie des Imperialismus
Den Startpunkt für die marxistischen Imperialismustheorien des frühen 20. Jahrhunderts legte Rudolf Hilferding mit seinem Hauptwerk „Das Finanzkapital, Studie über die jüngste Entwicklung des Kapitalismus“. Grob zusammengefasst ging es um das Bestreben, Marx‘ Hauptwerk, das Kapital, aufzufrischen und für die aktuelle Phase des Kapitalismus nutzbar zu machen. Die Methode, die Marx im Kapital anwendet, wird von ihm selbst als aufsteigend vom „Abstrakten zum Konkreten“ definiert. Das bedeutet, dass Marx den Kapitalismus im Kapital zuerst auf abstrakter Ebene – so sieht das System nicht in der konkreten Realität aus, sondern würde im hypothetischen Durchschnitt funktionieren, analysiert und sich von diesen Grundformen Ware, Wert, Arbeit, Kapital hin zu den konkreten Erscheinungen dieser Formen in einer spezifischen Phase des Kapitalismus bewegt. Anders als so manch seltsamer Marxist behauptet, sind die historisch-konkreten Phasen des Kapitalismus in vielen Kapiteln des Kapitals sehr präsent – bspw. im fünften Kapitel über den „Arbeitsprozeß“ oder noch besser im achte Kapitel über den Arbeitstag. Anknüpfend an Hilferding diskutierten die Marxist:innen (Kautsky, Luxemburg, Lenin, Bucharin) die Frage, wieweit konkrete in ihrer Phase stattfindende Veränderung des Kapitalismus, die marxschen Grundkategorien beeinflussen oder nicht.
In ihren Diskussionen besonders präsente Veränderungen waren die steigende Macht der Arbeiter:innen durch Gewerkschaften, die voranschreitende Globalisierung des Kapitalismus, das Entstehen von Unternehmensgiganten und die sich ausweitende Macht des Finanzkapitals. In diesen Diskussionen steckte auch die Frage, ob es in der marxschen Analyse eine Krisen-/Zusammenbruchstheorie des Kapitalismus gibt. Auch wenn Marx davon ausgeht, dass Kapitalismus die Tendenz hat, durch das Ansteigen von toter (Maschinen) gegenüber lebender Arbeit (Arbeiter:innen) seine eigenen Akkumulationsbedingungen zu verschlechtern, er entwickelte daraus keine Hoffnung auf einen Zusammenbruch des Kapitalismus. Imperialismus, die Fähigkeit des Kapitals, sein Territorium auszuweiten, war insbesondere für Rosa Luxemburg eine entscheidende Gegentendenz.
Luxemburgs Interpretation des Kapitals
Luxemburg versuchte in ihrem Werk „Die Akkumulation des Kapitals. Ein Beitrag zur ökonomischen Erklärung des Imperialismus“ die Veränderung des Konkreten am weitesten ins Abstrakte zu verlagern. Heutzutage werden fast nur ihre sehr überzeugenden Überlegungen zur ursprünglichen Akkumulation als dauerhaften kapitalistischen Prozess diskutiert. Bei Marx bedeutet „Ursprüngliche Akkumulation“, dass der Kapitalismus in seiner Entstehungsphase aus der bäuerlichen Bevölkerung eine Arbeiter:innenklasse schaffen musste. Dies geschah durch die Privatisierung von ursprünglichem Gemeineigentum (Commons).
Als „Landnahme“ beschreibt Luxemburg nun den Prozess der ursprünglichen Akkumulation in den Kolonien. Vorkapitalistische Wirtschaftsweisen werden in den Kapitalismus integriert, dadurch zerstört und der Kapitalismus erhält eine neue Möglichkeit, Mehrwert zu realisieren. Hinter diesem real stattfindenden Prozess steckt bei Luxemburg jedoch die These, dass die Reproduktionsschemata, die Marx im 2. Band des Kapitals entwarf, logisch fehlerhaft sind bzw. der Kapitalismus fehlerhaft ist. Marx entwickelt im 2. Band die Trennung der kapitalistischen Wirtschaft in Produktions- und Konsumptionsmittel und versucht zu definieren, in welchem Verhältnis diese beiden Sphären zueinander stehen. In Luxemburgs Interpretation kann neuer Wert nun nicht in diesen rein kapitalistischen Sphären generiert werden, sondern der Kapitalismus benötigt immer eine Außen, dass er durch den Prozess der Inwertsetzung akkumulieren kann.
Luxemburgs Zusammenfassung lautet: „Der Akkumulationsprozeß des Kapitals ist durch alle seine Wertbeziehungen und Sachbeziehungen: konstantes Kapital, variables Kapital und Mehrwert an nichtkapitalistische Produktionsformen gebunden. Letztere bilden das gegebene historische Milieu jenes Prozesses. Die Kapitalakkumulation kann so wenig unter der Voraussetzung der ausschließlichen und absoluten Herrschaft der kapitalistischen Produktionsweise dargestellt werden, daß sie vielmehr ohne das nichtkapitalistische Milieu in jeder Hinsicht undenkbar ist“.
Insbesondere der Marxist Anthony Brewer zeigte in seinem Buch Marxist Theories of Imperialism, dass Luxemburg die Reproduktionsschemata falsch interpretiert. Wichtiger noch argumentiert er, das Außen ist nicht absolut notwendig, stellt jedoch eine Verbesserung für die Kapitalakkumulation dar. Genauso ist festzuhalten, dass Kapitalexport in Kolonien nicht nur parasitär im Sinne von reiner Wertabschöpfung funktionierte, sondern die kapitalistische Entwicklung in den Kolonien sowie den Zentren massiv beschleunigte.
Kautsky: Ultraimperialismus
Aufgrund des Ausgangspunktes Hilferding gingen Kautsky wie Lenin und Bucharin davon aus, dass die zunehmende Macht von Einzelkapitalien oder Kapitalverbänden den Staat in ein immer direkteres Abhängigkeitsverhältnis führt. Durch die Überausbeutung von Kolonien können Unternehmen nicht nur Extraprofite einheimsen, sondern auch die nationale Arbeiter:innenklasse durch ökonomische Zugeständnisse zufriedenstellen. Dadurch würde eine Arbeiteraristokratie entstehen, welche sich nicht mehr am Klassenkampf gegen das Kapital beteiligt, sondern dazu tendiert, sich auf die Seite der Nation zu stellen. Anknüpfend daran ging Kautsky davon aus, dass die führenden imperialistischen Staaten stärker auf protektionistische Politik setzen würden – das bedeutet, Importe aus anderen Ländern erschweren. Die These der Arbeiteraristokratie steht auf schwachen Beinen, insofern als hoch qualifizierte Arbeiter:innen bspw. 1917-1924 die Basis der kommunistischen Massenbewegung waren. Genauso ist zu sehen, dass besser bezahlte Jobs meistens Produkt von Klassenkampf/Gewerkschaften sind, nicht Bestechungsversuche der Bosse.
In den Konsequenzen erkennt man den fundamentalen Unterschied zwischen den Theorien von Kautsky, Lenin und Bucharin am deutlichsten. Er geht von der hypothetischen Möglichkeit aus, dass sich Staaten genauso wie Banken miteinander zu Kartellen verbünden, die nicht mehr gegeneinander konkurrieren, sondern die restliche Welt gemeinsam ausbeuten. Diese in der Zukunft liegende Phase wird von Kautsky als Ultraimperialismus klassifiziert.
Ähnliche Überlegungen eines global organisierten Kapitalismus finden sich bei Antonio Negri in dem Begriff eines Empires, das kein konkretes politisches Zentrum mehr hat. Theoretisch noch versierter argumentiert William I. Robinson in seinem lesenswerten Buch The Global Police State, dass sich eine transnationale herrschende Klasse gebildet hat, welche die Nationalstaaten zusehends überflüssig macht. Diese Überlegungen stehen vor dem relativ offensichtlichen Problem, dass geopolitische Auseinandersetzungen zwischen Staaten nach wie vor von zentraler Bedeutung sind. Der Kapitalismus wie die Staaten bewegen sich als verfeindete Brüder durch die Welt und sind permanent bereit, sich gegenseitig zu sabotieren.
Konzentration und Zentralisation
Während Lenins Imperialismustheorie allgemein bekannt ist, wird sein theoretischer Mitstreiter Bucharin ignoriert. Dies ist Produkt der Geschichte der Sowjetunion: Aufgrund seiner abweichenden Meinungen in den späten 20er-Jahren versuchte die stalinistische Bewegung Bucharins Namen aus der revolutionären Geschichte zu tilgen. Lenin hingegen verstand Bucharins Text „Imperialismus und Weltwirtschaft“ als den eigentlichen Grundbaustein der kommunistischen Imperialismustheorie, während er seinen Text zur massentauglichen Einführung erklärte. Auch wenn die Grundrichtung der Argumentation ähnlich ist, gelingt es Bucharin, einige Probleme zu umgehen, vor denen Lenins Imperialismustheorie steht.
Zentraler Ausgangspunkt für Lenin und Bucharin ist der Prozess der Konzentration und Zentralisation des Kapitals. Das bedeutet, dass einzelne Unternehmen immer mächtiger werden und kleinere Unternehmen aufkaufen. Dadurch entsteht die langsame Tendenz zur Monopolbildung, welche durch die steigende Finanzkraft von Banken massiv erhöht wird. Die Prozesse der Konzentration und Zentralisation beginnen in einzelnen Branche nationaler Märkte und weiten sich dann auf die gesamte Weltwirtschaft aus. Extraprofite aus den Kolonien sind eine weitere Verstärkung dieses Prozesses: „Die Aufsaugung kleiner Kapitale, die Aufsaugung schwacher Trusts, ja sogar die Aufsaugung großer Trusts tritt in den Hintergrund und erscheint als ein Kinderspiel gegenüber der Aufsaugung ganzer Länder, die gewaltsam von ihren wirtschaftlichen Mittelpunkten losgerissen und in das wirtschaftliche System der siegreichen „Nation“ einbezogen werden. Die imperialistische Annexion ist somit ein Sonderfall der allgemeinen kapitalistischen Tendenz zur Zentralisation des Kapitals, zu seiner Zentralisation in dem maximalen Umfang, der der Konkurrenz der staatskapitalistischen Trusts entspricht.“
Der zentrale Unterschied zu Kautsky ist seine Möglichkeit eines nicht kriegerischen Ultraimperialismus. Lenin und Bucharin sahen in der steigenden Konzentration gerade die Gründe für die Zunahme von Kriegen. Die Konkurrenz der Kapitalverbände überträgt sich auf die Staaten. Bucharin versucht nachzuweisen, dass „die imperialistische Politik erst auf einer bestimmten Stufe der geschichtlichen Entwicklung in Erscheinung tritt. Eine Reihe von Widersprüchen des Kapitalismus wird hier zu einem Knoten verknüpft, der zeitweise durch das Schwert des Krieges zerhauen wird, um im nächsten Augenblick noch fester geknüpft zu werden.“
Probleme mit Lenin – Bucharin
Bei Hilferding findet sich das Problem, dass seine Definition von Finanzkapital nicht konsistent ist. Manchmal tendiert er dazu, mit Finanzkapital die Verschmelzung der Interessen von Finanz und Industrie zu meinen, manchmal geht er davon aus, dass sich die Interessen widersprechen. Hier findet sich die besonders bei Sozialdemokraten anzutreffende Tendenz, das Finanzkapital als besonders reaktionären Flügel des Kapitals darzustellen. Stalinisten folgten dieser These und organisierten „Volksfront“-Bündnisse mit dem nationalen Kapital gegen das internationale Finanzkapital. Während Lenin diese Politik praktisch bekämpfte, lässt sich seine Imperialismustheorie vereinfacht so lesen, als wäre Imperialismus aus den finanziellen Bedürfnissen des Finanzkapitals, nicht den Widersprüchen des Systems entstanden. Bucharin tappte nicht in diese Falle und definierte das Finanzkapital konsistent: „Das Finanzkapital … darf nicht mit dem Geldkapital verwechselt werden, denn das Finanzkapital zeichnet sich dadurch aus, dass es gleichzeitig Bank- und Industriekapital ist.“
Chris Harmann fasst in einer präzisen Kritik zusammen: „Außerdem schien die gesamte Theorie des Imperialismus auf der Schlüsselrolle der Banken beim Export von Finanzkapital zu beruhen. Aber das passte schon zu Lenins Zeiten nicht ins Bild, geschweige denn in den Jahrzehnten danach. Im deutschen Fall waren es die Industriegiganten, insbesondere die Schwerindustrie, die durch die Gründung von Kolonien und Einflusssphären über die nationalen Grenzen hinaus zu expandieren suchte. Darüber hinaus war das charakteristische Merkmal der US-amerikanischen und russischen Wirtschaft in dieser Zeit nicht der Kapitalexport, sondern der Zufluss von Kapital aus anderen kapitalistischen Ländern. Bei strenger Auslegung von Lenins Imperialismus scheinen diese beiden Länder zur Zeit des Ersten Weltkriegs überhaupt keine imperialistischen Staaten gewesen zu sein, auch wenn sie sich im vorangegangenen Vierteljahrhundert an der Aufteilung der übrigen Welt beteiligt hatten.“
Stärken von Lenin-Bucharin
Unabhängig von diesen Schwächen entwickeln Lenin und Bucharin eine Theorie, die es ihnen ermöglichte, in die Konflikte des Ersten Weltkrieges politisch einzugreifen. Gerade weil sie Imperialismus primär aus den ökonomischen Verhältnissen entwickelten, tappten sie im Unterschied zur Sozialdemokratie nicht in die Falle, sich auf die Seite ihrer Herrscher zu stellen. Sondern sie schleuderten der nationalistischen Kriegsbegeisterung die Parolen „Niederlagen der eigenen Regierung“ und „Verwandelt den Krieg der Nationen in einen Krieg zwischen den Klassen entgegen“. Ihre Fokussierung auf Imperialismus als System, indem mächtige Nationen aufgrund ökonomischer Interessen von Kapitalverbänden dazu tendieren, kleinere Nationen ökonomisch und politisch zu beherrschen, ermöglichte ihnen die politische Konsequenz „Selbstbestimmungsrecht der Nationen“.
Diese Strategie, die Kämpfe der Arbeiter:innen-bewegung mit den Revolten unterdrückter Nationalitäten zu verbinden, war ein entscheidender Baustein für die russische Oktoberrevolution. In diesem Punkt waren Lenin und Bucharin besser als Luxemburg, die aufgrund ihrer Überbewertung der Notwendigkeit einer kapitalistischen Entwicklung, nationale Befreiungsbewegungen als sinnlos bis konterrevolutionär abstempelte. Gerade im Kontext des Gaza-Krieges ist Lenins Solidarität mit unterdrückten Nationen mit dem Ziel der Schwächung des Imperialismus von zentraler Bedeutung.
Imperialismus im 21. Jarhundert
Generell ist festzuhalten, dass die Imperialismustheorien des 20. Jahrhunderts auf Basis empirischer Beobachtungen der Veränderungen des Kapitalismus aufgestellt wurden. Eine Imperialismustheorie die an die Diskussionen Lenin-Bucharin-Luxemburg anknüpft muss demnach genauso Veränderungen in der kapitalistischen Produktionsweise in ihre Theorie integrieren. Beispielsweise ließe sich heute fragen, inwieweit sich das spekulative Kapital von mittel- und langfristigen Investitionen zu rein kurzfristiger AI-gesteuerter Geldabschöpfung transformiert hat (Algo Trading). Die durchschnittliche Haltezeit von Aktien betrug 1980 10 Jahre, 2000 noch sechs Monate. 2013 lag sie bei 23 Sekunden. (Andere Berechnungen sprechen von aktuell 6 Monaten noch immer eine massive Verkürzung gegen 1980 oder 1914)
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Analyse der Welt weder durch die post-koloniale Brille noch durch jene der „realistischen Schule der Geopolitik“ ausreicht, um zu einer adäquaten Beschreibung der Welt, geschweige denn zu ihrer Veränderung zu kommen. Die marxistischen Imperialismustheorien waren und sind deutlich komplexer als Karikaturen, die davon reproduziert werden. Die Überbewertung ökonomischer Teilbereiche gegenüber einer Sicht auf Kapitalismus als umfassende Totalität ist eine potenzielle Schwachstelle. Auch wenn Robinsons Sicht verlockend klingt, dass das Bündnis High-Tech Kapital, Finanzbranche plus militärischer Komplex die aktuell dominierenden Kapitalfraktionen sind, sollten wir diese These nicht zu schnell aufstellen.
Während Marxist:innen beim Kapital davon ausgehen, dass es eine abstrakte Kategorie ist, die im konkreten nur in Vielheit anzutreffen ist, übersehen sie oft, wie Colin Baker feststellte, dass im konkreten auch „der Staat nur in der Mehrzahl existiert“. Imperialismus ist der Punkt, in welchem Staat wie Kapital aus ihrer Abstraktheit ins Konkrete treten, das bedeutet als miteinander konkurrierende und kooperierende Einheiten. Aus dieser Vielfalt folgt eine extreme Instabilität, welche durch Ideologien nochmals befeuert wird. Die Aufgabe für uns muss sein, sich von der Macht der Feinde nicht dumm machen zu lassen und nach den Brüchen in ihrer Ordnung zu suchen.