NATO-Einsatz an EU-Außengrenzen wird Flüchtlingskrise vertiefen
Jens Stoltenberg ist ein obskurer norwegischer Politiker und derzeit Generalsekretär der NATO („Organisation des Nordatlantikvertrags“). Dieser Posten ist unbedeutenden europäischen Politikern vorbehalten, die der „atlantischen Ordnung“ – seit den 1940er-Jahren dominiert von den USA – treu sind. Vergangene Woche markierte Stoltenberg in der jährlichen Münchner Sicherheitskonferenz den starken Mann. Er beschuldigte Russland „Europas Sicherheitsordnung“ zu destabilisieren.
Der russische Ministerpräsident Dmitri Medwedew schlug gewieft zurück. Er sagte, die Europäische Union (EU) hätte an ihren Grenzen eher ein „Band der Ausgrenzung“ als ein „Band der Freunde“ geschaffen. Wie zum Beweis kündigte Stoltenberg vergangenen Donnerstag die Entsendung des NATO-Marineverbands auf Zypern in die Ägäis an. Damit „solle Griechenland, der Türkei und der Europäischen Union geholfen werden“, sagte Stoltenberg, die „Flut an Flüchtlingen und Migranten“ zu bewältigen.
Die NATO – Grenzpolizist der Festung Europa
Die NATO stellte sich während des Kalten Kriegs als eine Kraft des Friedens dar. Jetzt verwandelt sie sich in den Grenzschutz der Festung Europa und hilft der EU, die Türen vor den Verdammten dieser Erde zu verriegeln. Dazu muss gesagt werden, dass die EU damit nicht wirklich gut vorankommt. Schätzungsweise 2.000 Migrant_innen überqueren täglich die Ägäis von der Türkei nach Griechenland. Das veranlasste die deutsche Kanzlerin der Türkei einen dringlichen Besuch abzustatten und einen NATO-Einsatz zu fordern.
Die beispiellose Welle der Solidarität mit Flüchtlingen, die sich im letzten Sommer ausbreitete, ist ungebrochen.
Viel ist passiert seit Merkels Versprechen im September, Deutschland für Flüchtlinge zu öffnen. Überall in Europa werden die Grenzen hochgezogen. Der britische Premier David Cameron fasste Europas bösartige Absichten mit seiner Ankündigung zusammen, die Sozialleistungen für EU-Migrant_innen zu kürzen. Die NATO-Intervention wird als Einsatz gegen Schlepper gerechtfertigt. US-Verteidigungsminister Ashton Carter erklärte: „Es existiert inzwischen eine Mafia, die diese armen Menschen ausbeutet. Es handelt sich um eine organisierte Schlepperoperation.“
Ungebrochene Welle der Solidarität
Aber Menschenschmugglern die Schuld für Migration zu geben, zeugt nur von der Mentalität eines besonders dummen Polizisten. Um zu verstehen, warum Menschen die gefährliche Überquerung des Mittelmeers im Winter riskieren, muss man nur auf den von Russland unterstützten Angriff der syrischen Truppen auf Aleppo blicken. Die Türkei bombardiert die kurdischen Gebiete im Norden Syriens. Und die Vereinten Nationen berichteten erst kürzlich, dass im vergangenen Jahr 11.002 Zivilisten in Afghanistan getötet würden – der höchste Wert seit Beginn der Aufzeichnungen 2009. Es ist kein Wunder, dass die Opfer dieser Kriege das friedliche und relativ wohlhabende Europa als einen sicheren Hafen sehen.
Erfreulicherweise verstehen das sehr viele Menschen in Europa. Die beispiellose Welle der Solidarität mit Flüchtlingen, die sich im letzten Sommer ausbreitete, ist ungebrochen. Versuche nach den Gräueltaten von Paris, Migration mit Terrorismus zu identifizieren, sind gescheitert. Genauso wie die Anstrengungen nach den Silvesterattacken in Köln, Migration mit männlicher Gewalt in Verbindung zu bringen. Das Mitgefühl hat in einer echten Bewegung Ausdruck gefunden – übersetzt durch den unglaublichen Einsatz einfacher Menschen, die Geld, Nahrungsmittel und Kleidung für Flüchtlinge sammeln und ihnen übergeben.
Historische Chance für die Linke
Das hat die Lage für die radikale und revolutionäre Linke, die sich ganz grundsätzlich zu offenen Grenzen positioniert hat, verändert. Socialist Worker (die britische Schwesternzeitung der Neuen Linkswende, Anm.) hat immer gegen Einwanderungskontrollen Stellung bezogen. In den 1970er-Jahren haben wir Migrant_innen gegen die Angriffe von Enoch Powell und die „Nationale Front“ verteidigt. Stolz haben wir gesagt: „Sie sind hier willkommen!“ Aber wir haben uns daran gewöhnt, isoliert zu sein. Unsere Ablehnung aller Einwanderungskontrollen war für manche, die damals im Kampf gegen Faschismus und Rassismus überlegt hatten beizutreten, noch eine Hürde.
Aber heute sind wir Teil einer viel breiteren Bewegung, die Flüchtlinge willkommen heißt. Natürlich unterstützt die Mehrheit in der Bewegung vermutlich nicht bewusst offene Grenzen. Und wir sind auch mit der Opposition von organisierten Rassisten und repressiven, islamfeindlichen Staaten konfrontiert. Aber die Gesellschaft in Europa ist jetzt scharf polarisiert zwischen jenen, die Flüchtlinge willkommen heißen, und jenen, die sie zurückweisen wollen.
Wir haben die historische Chance, sehr viele Menschen für eine prinzipiell antirassistische Politik zu gewinnen. Der internationale Tag gegen Rassismus am 19. März ist eine wichtige Gelegenheit, die Bewegung in Solidarität mit Flüchtlingen zu stärken. Antirassist_innen müssen all ihre Kräfte in die Waagschale werfen.
Alex Callinicos ist führendes Mitglied der Socialist Workers Party (SWP, Schwesterorganisation der Neuen Linkswende) und Professor für Europäische Studien am King’s College London.
Am 19. März gehen in ganz Europa zehntausende Menschen in Solidarität mit Flüchtlingen auf die Straße. Die Plattform für eine menschliche Asylpolitik ruft zur Großdemonstration auf.
Artikel ist zuerst auf www.socialistworker.co.uk erschienen. Übersetzung aus dem Englischen von David Albrich.