Wie ein Geschäftsmann über Abschiebungen nach Afghanistan entscheidet
Wer ist Karl Mahringer? Wie die meisten Menschen in Österreich habe ich diesen Namen in meinen ersten 24 Lebensjahren nie gehört. Das änderte sich erst, als ich begann, mich in der Unterstützung von Geflüchteten zu engagieren.
Gutachter und Geschäftsmann
Karl Mahringer ist gerichtlich beeideter Sachverständiger in Österreich. Er erstellt Gutachten über die aktuelle Situation in Afghanistan, die als Grundlage für Asylentscheide herangezogen werden. Kurz gesagt: Seine Aussagen entscheiden darüber, ob Menschen nach Afghanistan abgeschoben werden oder nicht.
Der 64-Jährige aus dem obersteirischen Bezirk Liezen ist jedoch kein Wissenschaftler, sondern Geschäftsmann. Zwar reist er für seine Gutachten auch selbst nach Afghanistan. Aber häufig stehen seine Beschreibungen der Sicherheits- und Versorgungslage im Land im direkten Widerspruch zu dem, was internationale Organisationen berichten. Dazu meldet er sich auch gerne öffentlich zu Wort. So etwa kürzlich in einem Interview mit dem Kurier unter dem Titel „Afghanistan: 70 Prozent sind Wirtschaftsflüchtlinge“.
Subjektive Faktenlage
Mahringer argumentiert, warum er Abschiebungen nach Afghanistan für richtig hält: Das Land sei sicher, wenn man sich an Sicherheitshinweise halte und gewisse Gebiete meide, außerdem seien viele der verübten Attacken nicht politisch motiviert. Als eigentlichen Fluchtgrund sieht er Schlepper und nicht die Sicherheitslage, die sich seit 2016 drastisch verschlechtert. Auf den Einwand, dass der aktuelle Bericht von Amnesty International belegt, dass es so viele Tote gibt wie nie zuvor, antwortet Mahringer nur: „Dem kann man zustimmen.“
Mahringer nimmt für sich in Anspruch, auf Basis der „Faktenlage aus der subjektiven Sicht der Afghanen“ zu urteilen. Daraus ergäben sich die teils frappierenden Unterschiede zwischen den Berichten internationaler Organisationen und seinen Behauptungen. Was zählt, sind seine Erfahrungen. Er beschreibt die Sicherheitslage so, wie er sie erlebt. Die steigende Zahl von zivilen Toten und die Tatsache, dass sowohl NATO als auch die USA ihre Truppenstärke erhöhen, ignoriert er ebenso wie Berichte über abgeschobene Afghan_Innen, die gefoltert, entführt oder gar umgebracht wurden.
Aus dem Kontext gerissen
Was seine Aussagen so gefährlich machen, ist, dass viele davon nicht falsch sind, aber unvollständig oder aus dem Kontext gerissen. Mahringer gibt beispielsweise an, dass es überall in Afghanistan Schulen gäbe. Die hohe Analphabetenrate erklärt er damit, dass viele Eltern ihre Töchter nicht in den Unterricht schicken würden. So vermittelt er den Eindruck, dass es ein funktionierendes Bildungssystem gäbe, dieses aber von den Bewohner_Innen nicht genutzt würde.
Die Realität sieht anders aus: Kinder gehen durchschnittlich 3,6 Jahre lang in die Schule, Lehrer haben häufig keine offiziellen Qualifikationen und auch Bestechungsgelder für Prüfungen sind keine Seltenheit. Diese Umstände erklären auch die Analphabetenrate von 65 Prozent bei Männern und 83 Prozent bei Frauen.
Schlepper als Fluchtgrund?
Einer ähnlichen Logik folgt Mahringers Aussage, dass Schlepper der Grund seien, warum viele aus dem Land fliehen. Ja, Schlepperei spielt eine wichtige Rolle und ist mit kriminellen Netzwerken wie Drogenhandel oder Menschenhandel verknüpft.
Sie als Hauptgrund dafür zu nennen, dass Menschen aus Afghanistan fliehen, ist aber zynisch. In diesem Land herrschen seit mehr als 40 Jahren Krieg und Bürgerkrieg.
Unwissenschaftliches Gutachten
Auch in dem von Mahringer verfassten Gutachten über die Sicherheitslage in Afghanistan zeigen sich diese Ansichten. Thomas Ruttig, Ko-Direktor und Mitgründer des Afghanistan Analyst Network, einer unabhängigen Forschungseinrichtung in Kabul und Berlin, hat sich in einem Kommentar genauer mit diesem Gutachten befasst.
Der politische Analyst, der sich seit 1980 mit Afghanistan beschäftigt, kritisiert unter anderem die Verwendung unwissenschaftlicher Quellen. Als Belege für seine Aussagen zieht Mahringer zum Teil Werke aus den 1920er Jahren (!) heran. Außerdem zitiert er aus Romanen und Abenteuerliteratur.
Auch ignoriert Mahringer aktuelle wirtschaftliche, politische und soziale Entwicklungen, wie die seit letztem Jahr sich drastisch verschlechternde Sicherheitslage. Noch nie gab es mehr zivile Todesopfer, die Zahl der Vertriebenen im Land steigt, die als unsicher beschriebenen Zonen weiten sich immer mehr aus. Dass inzwischen Mitarbeiter_Innen des Roten Kreuzes aus Afghanistan abgezogen werden, sagt viel darüber aus, wie es um die Sicherheit in Afghanistan bestellt ist.
Was passiert nach der Abschiebung?
Besonders folgenschwer werden die Einschätzungen Mahringers, wenn es um die Situation für abgeschobene Afghan_Innen geht. Er schreibt in einem Gutachten: „Die Abschiebungen […] der abgelehnten Asylwerber haben klar dokumentiert, dass eine Rückkehr nach Kabul, Herat und Mazar-e Sharif ohne Einschränkung erfolgen kann. Es traten keine Schwierigkeiten ab der Ankunft am Flughafen Kabul auf.“
Die abschiebenden Staaten erhalten aber keine Beurteilung der Situation für Abgeschobene: Wie ergeht es ihnen nach einer Woche, einem Monat, einem Jahr? Niemand in Deutschland oder Österreich weiß, ob sie die Möglichkeit haben, sich in Afghanistan ein Leben aufzubauen.
Theorie und Praxis
Der wohl wichtigste Kritikpunkt ist, dass Mahringer wiederholt nicht unterscheidet, ob etwas rechtlich, also „theoretisch“ verfügbar ist, oder ob die Menschen es wirklich nutzen können. So betreffen viele der Aussagen zu Wohnraum, Gesundheitsversorgung, Wasserversorgung oder Nahrungsmitteln deren abstrakte Verfügbarkeit, nicht aber die tatsächliche Möglichkeit, sie zu erwerben.
Nur weil es eine Schule gibt, heißt das nicht, dass ein Kind wirklich hingehen kann und schon gar nicht, ob es dort lesen und schreiben lernt. Nur weil es ein Krankenhaus gibt, bedeutet das nicht, dass der Weg dorthin sicher ist und man dort wirklich behandelt wird.
Macht und Verantwortung
Als Gutachter hat Karl Mahringer Macht und Verantwortung. Auf Grundlage seiner Einschätzungen werden Menschen aus Österreich nach Afghanistan abgeschoben. Doch diese Einschätzungen zeichnen nicht das Bild eines Landes, das seit 40 Jahren von gewalttätigen Konflikten geprägt ist. Es ist ein Bild voller Beschwichtigungen und Beschönigungen, das mit der Lebensrealität der Afghaninnen und Afghanen wenig zu tun hat.